Marco Metzler: Nationale Volksarmee. Militärpolitik und politisches Militär in sozialistischer Verteidigungskoalition 1955/56 bis 1989/90, Baden-Baden: NOMOS 2012, 793 S., ISBN 978-3-8329-6669-0, EUR 118,00
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Rüdiger Wenzke (Hg.): Die Streitkräfte der DDR und Polens in der Operationsplanung des Warschauer Paktes, Potsdam: Militärgeschichtliches Forschungsamt 2010
Rüdiger Wenzke: Ab nach Schwedt! Die Geschichte des DDR-Militärstrafvollzugs, Berlin: Ch. Links Verlag 2011
Heiner Bröckermann: Landesverteidigung und Militarisierung. Militär- und Sicherheitspolitik der DDR in der Ära Honecker 1971-1989, Berlin: Ch. Links Verlag 2011
Winfried Heinemann: Die DDR und ihr Militär, München: Oldenbourg 2011
Zuallererst beeindruckt das Gewicht des Buches - mit fast 800 Seiten eine überaus umfangreiche Dissertation. Der Blick in das Inhaltsverzeichnis verrät die Absicht des Autors und erklärt den Umfang - es geht um die Nationale Volksarmee (NVA), ihre gesamte Geschichte und die Einbindung in den Warschauer Pakt. Die NVA soll darin als militärpolitisches Instrument und als politisch verpflichtetes Militär im sowjetisch dominierten Pakt analysiert werden. In seinem Vorwort betont Eckhard Jesse, dass Metzler eine methodisch anspruchsvolle Studie vorgelegt hat, die nur auf der Analyse einer breiten Quellenbasis möglich war.
Einleitend erläutert der Verfasser sein Forschungsinteresse, Quellenlage und Forschungsstand sowie die Methodik der Arbeit. Er will "zum Überarbeitungsprozess des Wissens zur DDR, speziell zum Militär des Landes" beitragen (56). Nun ist der Überarbeitungsprozess zum Thema bereits seit 20 Jahren im Gang und hat, wie das Literaturverzeichnis ausweist, eine Fülle von Büchern hervorgebracht. Metzler will die NVA "als militärpolitisches Instrument und als politisch verpflichtetes Militär in der 'sozialistischen Verteidigungskoalition'"(28) fassen. Dieser Ansatz ist nicht neu und jeder Forscher stellt schnell fest, dass die NVA als Machtinstrument der SED-Diktatur und als sozialistische Koalitionsarmee gegründet wurde. Das gibt der NVA und ihren Entwicklungsphasen das Gepräge. Das Interessanteste an dem Ansatz ist, dass er über die Gesamtgeschichte der NVA reicht und die Untersuchung von Kontinuität und Wandel ermöglicht.
Die Literaturanalyse zeugt vom tiefen Eindringen in die Materie. Sie liest sich wie das "who is who" der Militärgeschichtsschreibung zu NVA und Warschauer Pakt. Weniger tief sind die Archivbestände ausgelotet, zumal der Leser sicher für Hinweise auf die im Internet verfügbaren Dokumentenpools, so des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) oder die Standortdateien NVA und Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland dankbar gewesen wäre. Unterlagen der BStU werden nicht genutzt, obwohl die Staatssicherheit eine eigene Abteilung für die Waffenträger der DDR bildete, Rüstungswirtschaft und Grenzsystem überwachte und letztlich über alle Vorgänge und Personen in und um die NVA Informationen sammelte.
Konzeptionell gleichen sich die Strickmuster der Kapitel. Das zweite Kapitel beleuchtet die Etablierung des Warschauer Paktes, das vierte die der NVA, das dritte beschreibt die Organisation des Bündnisses, das fünfte die der NVA. Die Abschnitte sechs bis zehn verfolgen Entwicklungsabschnitte der NVA bis zur Auflösung. Es finden sich die Krisen des Ostblocks, die Großereignisse, Entscheidungen und Manöver wieder. Ob zur Sonderklausel im DDR-Beitrittsvertrag, zur Rolle der NVA beim Mauerbau oder bei den gut erforschten Krisen so viel Neues zu lesen ist, wie Jesse meint, sei dahin gestellt. Ihm ist zuzustimmen, dass die Anlage als Kompendium dieser Arbeit ihre Stärke aber zugleich ihre Schwäche ist.
Metzler beginnt das zweite Kapitel mit der Gründung des Warschauer Paktes, erläutert die Hintergründe der Bildung der politischen und militärischen Koalition, die seiner Meinung nach ohne militärische Notwendigkeit, wohl aber mit Motiven der Stärkung des sowjetischen Einflussbereiches erfolgte. Der Autor geht weniger auf die These des politischen Tauschpfandes gegen die NATO ein, als er vielmehr dezidiert darauf abhebt, dass Moskau keine Bedrohung in der Wiederaufrüstung der Bundesrepublik sah. Das macht er an Truppenreduzierungen und der Nichtaktivierung der militärischen Komponente des Paktes fest. Da ließen sich hinreichende Einwände finden.
Das dritte Kapitel widmet sich der Organisation und den Institutionen des Paktes. Über 18 Seiten seziert der Autor die Vertragsklausel und macht deutlich, wie sehr sich die Verträge von NATO und WVO glichen. Im Folgenden werden die bilateralen Beistandsabkommen als Instrument der Bindung der Ostblockländer an die UdSSR erläutert und die politischen und militärischen Organe des Paktes in der gesamten Existenz des Bündnisses vorgestellt.
Das folgende Kapitel widmet sich der NVA. Der Abschnitt über die Vorgänger und die Voraussetzungen für die Bildung der NVA ist knapp, genau, präzise und zeigt auch das wirtschaftliche Umfeld der Armeegründung. Bemerkenswert ist, dass die Rüstungswirtschaft der DDR nachfolgend nicht mehr thematisiert wird - methodisch unverständlich, weil die NVA im Pakt ohne Rüstungswirtschaft und Vorbereitung des Landes auf die Verteidigung eigentlich kaum erklärbar ist.
Im fünften Kapitel werden der Auftrag der NVA, die Führungsgremien und die Struktur bis 1989 beleuchtet. Ob der Schutz der SED-Herrschaft eine "nachgeordnete Aufgabe" (250) war, ist angesichts des auch vom Autor erwähnten inneren Sicherheitssystems der DDR, dessen Bestandteil die NVA war und das die SED ab 1960 zum System der Landesverteidigung entwickelte, fraglich. In dem von Metzler gut beschriebenen NVR verquickten sich innere und äußere Aufgaben des Schutzes der DDR bis 1989.
Mit den Kapiteln sechs bis zehn analysiert der Autor nun die NVA im Pakt. Vorab fällt auf, dass als Zäsuren die Jahre 1955, 1964/65, 1968/69, 1979/80, 1985 und 1989/90 gewählt werden. Das verwundert, drängen sich Meilensteine wie Mauerbau, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, Militärdoktrin der UdSSR 1960, die Einführung von Raketen- und Nuklearwaffen in den 1960er Jahren oder der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker geradezu auf. Seine Zeitabschnittswahl begründet Metzler kaum. Es folgt die Einbindung der NVA in das Bündnis und eine Betrachtung zum ebenfalls gut untersuchten Krisenjahr 1956.
Metzler widmet sich dann den Strängen der politischen Kontrolle durch die SED, der "Kaderpolitik" und versucht in die NVA-interne Entwicklung einzudringen. Es folgt das Krisenjahr 1961 (Berlin-Krise 1958-61), das der Autor einleitend zur Erklärung nutzt, warum andere Autoren die Zäsur hier setzen. Es schließen sich Erläuterungen zum Mauerbau und zur Kuba-Krise an. Interessant ist, dass Metzler die NVA schon Mitte der 1960er Jahre als Juniorpartner der UdSSR sieht. Ab 1961 fanden gemeinsame Übungen zum Zusammenwirken der Vereinten Streitkräfte sowie der Mobilmachung statt und die ab 1961 einsetzende Einbeziehung der NVA in die "erste strategische Staffel" wurde 1965 beendet, womit er die Zäsur begründet (492). Allerdings war weder die 1961 begonnene Vereinheitlichung der Mobilisierungssysteme, der Systeme der Landesverteidigung, noch die Ausrüstung mit Raketen oder die Automatisierung der Gefechtsführung in den Bündnisarmeen abgeschlossen. Darüber erfährt man kaum etwas.
Metzler nimmt anschließend die Militärpolitik des Paktes und der DDR in den Blick und verschiebt den Fokus auf die politische Rolle der NVA im Kontext des Warschauer Paktes. Fortan erscheint die Selbstwahrnehmung der SED im Kontrast zur Wirklichkeit. Konsequent geht es um die politische Disziplinierung und Kontrolle der NVA und das Verhalten der politischen Armee in den Ostblockkrisen. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre sieht der Autor in Parteiführung und Militär eine Euphorie im "Fortschrittsglauben". Die NVA entwickelte sich in der tschechoslowakischen Reformkrise zum Mahner gegenüber der Sowjetunion. Es war Moskaus Entscheidung, auf den Einsatz der NVA bei der Intervention in die CSSR zu verzichten - der Autor sieht vor allem Misstrauen und nicht den Imageschaden in der Welt, wenn deutsche Soldaten in dieser Uniform erneut tschechoslowakischen Boden betreten hätten.
In den 1970er Jahren befand sich die NVA fest im Griff der SED und folgt der sozialistischen Zukunftsvision des fortschreitenden Wandels vom Imperialismus zum Sozialismus. Die NVA engagiert sich in Ländern der Dritten Welt, innerhalb der Koalition wird nach dem Erreichen des "Gleichgewichts des Schreckens" nun an der Weiterentwicklung der Schlagkraft unterhalb der Schwelle des Nukleareinsatzes gearbeitet. Die Krisen im Pakt mit der Sonderrolle Rumäniens, aber auch die wachsenden wirtschaftlichen Probleme, etwa zur Zeit der Ölkrise, und erstaunlicherweise auch der Entspannungsprozess und die KSZE-Verhandlungen werden nicht beleuchtet. So kommt dann die Abstiegsphase des Bündnisses während der 1980er Jahr etwas unvermittelt. Auch in der Polenkrise 1980/81 sieht sich die DDR als linientreuester "Sozialist" und ignorierte die Krisenerscheinungen. Doch in der DDR wie im gesamten Ostblock bröckelte es, wie das vorletzte Kapitel zu Reformversuch und Auflösungsphase beschreibt. Der Leser erfährt über die neue Militärdoktrin von 1987 und den Übergang zur "hinlänglichen" Verteidigung, über die Krisenerscheinungen im Block und über das Krisenjahr 1989 in der DDR. In der Schlussbetrachtung lässt Metzler die 35 Jahre NVA- und Paktgeschichte Revue passieren, vergleicht Entwicklungslinien und unterstreicht von ihm getroffene Einschätzungen.
Insgesamt bemüht sich der Autor, die Entwicklung der NVA in den Warschauer Pakt einzubinden und die NVA vor allem als politisches Militär zu begreifen. Das nahezu gigantische Dissertationsthema zwingt dazu, viele Facetten der Pakt- oder NVA-Entwicklung auszublenden oder nur anzureißen. Besonders schmerzlich ist das bei der Funktion der DDR als Front- und Durchmarschgebiet der Vereinten Streitkräfte mit gravierenden Folgen für das Landesverteidigungssystem und die Armee. Die Militarisierung der DDR-Gesellschaft scheint gelegentlich auf, wirtschaftliche Belange im Pakt und beim Wettrüsten gehen nahezu völlig unter. Damit geraten aber auch einige Schlussfolgerungen wenig fundiert und scheinen vorschnell. Insgesamt bekommt der Leser einen durchaus interessanten Überblick über die NVA-Entwicklung, muss aber auf wesentlich Neues verzichten.
Torsten Diedrich