Roger Engelmann (Bearb.): Die DDR im Blick der Stasi 1953. Die geheimen Berichte an die SED-Führung (= Die DDR im Blick der Stasi. Die geheimen Berichte an die SED-Führung), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 320 S., 5 Abb., 1 CD-Rom, ISBN 978-3-525-37500-6, EUR 29,99
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Mit dem Volksaufstand im Juni 1953 in der DDR begann die regelmäßige Berichterstattung der späteren Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe (ZAIG) des Ministeriums (Staatssekretariats) für Staatssicherheit (MfS/SfS). Fast 37 Jahre lang, von 1953 bis 1989, dokumentierte die Stasi in diesen Berichten ihre Sicht auf die DDR und ihre Bevölkerung, auf Wirtschaft, Kultur und Alltagsleben. Hier steht Banales neben Wichtigem, hier werden oppositionelle Meinungen genauso registriert wie systemkonforme, hier findet sich auch Kritik, die sonst nicht offen geäußert werden durfte. Auch wenn das MfS auswählte und filterte, überhöhte und verschwieg, also kein objektives Bild zeichnete, bleiben diese Zeitdokumente eine sehr wertvolle und informative Quelle zum Verständnis der DDR, ihrer Staatsmacht und ihrer Gesellschaft.
In den vergangenen Jahren sind in dieser Editionsreihe bereits Bände zu den Jahren 1961, 1976, 1977 und 1988 erschienen. Zum 60. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR ist nunmehr der Band zu 1953 veröffentlicht worden. Er wurde von Roger Engelmann bearbeitet, der ein Experte für diese Zeit ist. In seiner Einführung wird der Leser systematisch vom politischen Kurswechsel der SED ab Mitte 1952 über den Volksaufstand im Sommer 1953 bis zur Lage in der DDR am Jahresende geführt. Thematisiert wird die von Stalin forcierte Aufrüstung der DDR, der "Aufbau des Sozialismus" durch die SED, die Drangsalierung der Privatwirtschaft und der Bevölkerung sowie die wirtschaftliche und politische Krise 1952/53. In den Einführungsabschnitten findet man alle notwendigen Informationen und Hinweise auf die weiterführende Literatur, um sich die Dokumente des Bandes zu erschließen. Auch die Krise des Staatssicherheitsdienstes selbst, dem die Regierenden während des Volksaufstandes Versagen vorwarfen, und seine Degradierung zum Staatssekretariat werden beleuchtet.
Die Berichte zeichnen minutiös die Stimmungslage in der Bevölkerung nach, die Unzufriedenheit mit der SED-Führung und den mangelnden Glauben an eine Verbesserung der Lage in der DDR. Die Meldungen machen aber ebenso deutlich, dass das negative Meinungsbild von der Stasi auf die westliche Ideologie und Propaganda zurückgeführt wurde - ein Glaube, den die SED-Führung nur zu gerne annahm. Das SfS präsentierte negative und positive Aussagen und registrierte den Kartenverkauf von S-Bahnfahrten in den westlichen Teil der Stadt.
Engelmann widmet einen größeren Abschnitt der Einleitung zu Recht der DDR-Arbeiterschaft. Ihr Protest war für die SED-Führung besonders schmerzhaft, hier war die Verbitterung auch besonders hoch. Es gab Betriebe, in denen die Stasi noch Wochen nach dem Volksaufstand eine solch explosive Stimmung feststellte, dass man ein schnelles Wiederausbrechen der Proteste befürchtete. Es wird deutlich, dass es der SED erst gegen Ende Juli gelang, die Situation in den Werkhallen zu beruhigen, erst im Oktober konnte der Parteiapparat wieder zu Wettbewerb und Selbstverpflichtung in den Betrieben motivieren. Die Berichte dokumentieren insgesamt ein interessantes Bild des DDR-Alltags. Doch Engelmann wird auch nicht müde darauf hinzuweisen, dass die Aussagen aus dem Blickwinkel des Geheimdienstes erfolgten, der zudem selbst gegenüber den Regierenden um erhöhte Anerkennung rang.
Die anfänglich langen Einzelberichte zu besonderen Ereignissen oder der Situation in bestimmten Betrieben finden zum Jahresende hin eine immer deutlichere Standardisierung. Zuerst wird die Lage in Industrie und Verkehr erfasst, dann die der Landwirtschaft. Es schließt sich eine Analyse der Stimmung in der Bevölkerung an; danach wird über besondere Ereignisse, beispielsweise der Tod von mehreren Bürgern durch eine sowjetische Granate am Rande eines Sperrgebietes, berichtet. Auf die Beschreibung der "organisierten Feindtätigkeit" folgt abschließend eine Einschätzung der Lage aus Sicht der Stasi.
Von besonderem Interesse für den Rezensenten sind die Berichte über die Rückkehrer. Menschen, die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen die DDR verlassen hatten, bot der Ministerratsbeschluss vom 11. Juni 1953 die Rückkehr an. Sie sollten alle Bürgerrechte und ihren Besitz zurückerhalten. Zu Beginn beschrieb die Stasi gern die Negativstimmung in den westlichen Flüchtlingslagern und beobachtete wohlwollend die Integration in die DDR-Gesellschaft. Da jedoch die Grundtendenzen gleich blieben, ließ die Einzelberichterstattung zu den Rückkehrern nach. Während sich der Staatssicherheitsdienst nun auf das vergleichende Zählen von "Republikflüchtigen" und Rückkehrern in der Hoffung auf einen Umkehrschub konzentrierte, erfährt man aus den Berichten wenig über das Schicksal der Rückkehrer in die DDR. So mancher landete, trotz gegenteiliger Versicherung der DDR, später doch in Gefängnissen oder verließ Ostdeutschland erneut. Solche Themenfelder werden in den edierten Berichten angerissen, können aber mit diesen Quellen nicht erschöpfend aufgearbeitet werden.
Ähnliches gilt für das Thema Feindtätigkeit. Die Berichte lesen sich spannend, man kann ihnen viel Zeitkolorit entnehmen. Auch hier wird ein langsames Abflauen der Proteste deutlich. Gern reflektieren die Berichte Prozesse und "Schläge" gegen die Feindtätigkeit, so die KgU-Prozesse in Magdeburg, die Verhaftung oder Enttarnung von V-Leute der Organisation Gehlen oder von wirklichen oder vermeintlichen amerikanischen Spionen, die von der Bevölkerung oft positiv aufgenommen worden seien. Nicht selten sind es gerade diese Passagen, in denen beschönigt oder die Arbeit der Stasi herausgestellt wird.
Mit dem Buch über die geheimen Berichte der Stasi aus dem Jahr 1953 liegt eine spannende Publikation vor, die eine Tiefenbohrung in die damalige Zeit, in Staat und Gesellschaft, aber auch in den Ost-West-Konflikt zulässt. Es erschließt die Stasi-Berichte für die wissenschaftliche Arbeit, gibt einen Einblick in die Entstehung des Berichtswesens des MfS und bietet zugleich eine fesselnde Lektüre über ein Schicksalsjahr der DDR-Geschichte. Mit den weiteren Editionen wird ein immer vollständigeres Gemälde der DDR im Blick der Stasi entstehen. Man darf also weiterhin gespannt sein.
Torsten Diedrich