Sabine-Maria Weitzel: Die Ausstattung von St. Nikolai in Stralsund. Funktion, Bedeutung und Nutzung einer hansestädtischen Pfarrkirche (= Bau + Kunst. Schleswig-Holsteinische Schriften zur Kunstgeschichte; Bd. 18), Kiel: Verlag Ludwig 2011, 400 S., 42 Farb-, 59 s/w-Abb., ISBN 978-3-937719-83-2, EUR 34,90
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Julien Noblet: En perpétuelle mémoire. Collégiales castrales et saintes-chapelles à vocation funéraire en France (1450-1560), Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2009
Christopher Herrmann / Edmund Kizik (Bearb.): Chronik der Marienkirche in Danzig. Das "Historische Kirchen Register" von Eberhard Bötticher (1616). Transkription und Auswertung, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013
Karin Krause / Barbara Schellewald (Hgg.): Bild und Text im Mittelalter, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011
Im Rahmen bauhistorischer Studien zur Backsteinarchitektur wird der Stralsunder Pfarrkirche St. Nikolai nicht zuletzt dank der formalanalytischen Studie Michael Huyers große Bedeutung beigemessen. Die dreischiffige Basilika steht mit ihrem von ranghöheren Kirchenbauten adaptierten Umgangschor und Kapellenkranz in unmittelbarer Nachfolge des Lübecker Domes. [1] Mit der Dissertation von Sabine-Maria Weitzel liegt nun auch erstmals eine umfassende Arbeit zur liturgischen Ausstattung vor, der hoffentlich weitere Untersuchungen folgen werden. Die von der liturgiewissenschaftlich orientierten Forschung vernachlässigten norddeutschen Kirchenausstattungen sind bislang einzig in der Dissertation Antje Grewolls zu Kapellenstiftungen übergreifend erörtert worden. [2] Zudem standen Ausstattungsensembles in Stadtpfarrkirchen mit Ausnahme der Habilitationsschrift Gerhard Weilandts zur Nürnberger Sebalduskirche kaum im Mittelpunkt der Betrachtung. [3]
In einer sehr ausführlichen Einleitung legt die Autorin ihren methodischen Zugriff dar. Sie betrachtet das Kirchengebäude nicht als Funktionsraum im Sinne eines reinen Zweckbaus, sondern als durch Gestalt und Ausstattung erfahrbaren Sakralraum (43ff.). Weitzels Anliegen geht daher über eine Sichtung funktionaler Bezüge hinaus. Es soll vielmehr eruiert werden, wie rituelle Handlungen "Raum" konstituieren (41f.). Hierbei stützt sie sich explizit auf den prozessualen Raumbegriff Martina Löws, der vom Ort unterschieden wird. [4] Da sie weiterhin von der "Funktionsweise" (21) und "funktionalen Gliederung" (250) des Kirchenraumes oder einer "Vielfalt der Funktionsbereiche" (43) spricht, wird deutlich, dass ein Denken ohne funktionale Kategorien kaum möglich ist.
Weitzels Ausführungen im Hauptteil bewegen sich entlang der Binnentopografie zentraler Orte der sakramentalen Liturgie wie dem Hochchor und Kreuzaltar, sodann den Kapellen und Nebenaltären als Orten der Votivmessen und schließlich dem Ort des Ratsgestühls (54). Die im zeitlichen Verlauf veränderten Anordnungen von Ausstattungsstücken können anhand dreier Pläne zur vorreformatorischen Binnentopografie, derjenigen bis zum Jahr 1840 und der heutigen sehr anschaulich nachvollzogen werden.
Weitzel beginnt mit dem Hochchor, dessen Gestalt dem von der Forschung häufig unbeachteten pfarrkirchlichen Stundengebet und Chorgottesdienst einen angemessenen architektonischen und baudekorativen Rahmen und zugleich ein raumbestimmendes Ausstattungsprogramm bietet. Innerhalb dreier Ausstattungsphasen gilt Weitzels Aufmerksamkeit insbesondere den Chorschranken, den Fragmenten des Chorgestühls und dem Hochaltarretabel (61-90), um im Folgenden die wichtige Diskussion zur Zugänglichkeit dieses Raumes zu erörtern (90f.).
Die mittelalterliche Raumdisposition des Langhauses war von einer außergewöhnlich hohen Anzahl von nachweislich 40 Altären um 1378 und 56 Altären im Jahr 1525 bestimmt (134), wobei der Kreuzaltar nach dem Hochaltar den wichtigsten Ort für Parochialmessen darstellt (120). Da gerade das Mittelschiff nach der Reformation durchgreifenderen Veränderungen unterlag, behandelt die Autorin verstärkt barocke Ausstattungsstücke, wie den Schlüter-Altar von 1708 (121f.). Die Kapellen und Nebenaltäre bildeten jeweils eigene Räume aus. Um Verwechslungen zu vermeiden, unterscheidet die Autorin zwischen architektonisch abgesetzten Kapellen gegenüber Nebenaltären, die in Quellen in der Regel unterschiedslos als "Kapelle" bezeichnet werden (54). Weitzel untersucht die Kapellen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und stellt als Besitzer Ratsherren heraus. Sie kann im Verlauf der Arbeit nicht nur die Zuordnung der Bürgermeisterkapelle durch Antje Grewolls korrigieren (142), sondern auch die Stellung der Nikolaikirche gegenüber den anderen Pfarrkirchen der Stadt durch die im Chorscheitel angeordnete Kapelle des Plebans sowie die der ranghöchsten Priesterbruderschaft Stralsunds unterstreichen.
Als Inhaber der Nebenaltäre werden berufsständische Korporationen genannt (155f.). Die Standortwahl erfolgte nicht unbedingt nach der hierarchischen Stufung vom Chor zum Langhaus. Wichtiger waren der relationale Stellenwert eines liturgischen Ortes oder die Lage des Amtslokals der jeweiligen Korporation (159ff.). Zustiftungen versprachen dem Einzelnen Vorsorge für das Seelenheil und kamen der gesamten Glaubensgemeinschaft zugute (162ff.). Aus den Retabelprogrammen liest Weitzel spezifische Verehrungen von Schutzheiligen und eine stetige Intensivierung der Passionsfrömmigkeit heraus. Besonders aufschlussreich sind ihre Ausführungen zu einer "synchronen Wandlungspraxis", die das "synthetisierende Verhältnis der Altäre untereinander und zum Gesamtraum" (226) erkennen lassen, sowie zu liturgisierten Handlungen bei mit Reliquien oder Ablassprivilegien verbundenen Bildwerken (248).
Nicht zuletzt bot die Nikolaikirche auch der familiären und korporativen Repräsentanz einen Handlungsraum. Das Ensemble von St. Nikolai und Rathaus veranschaulicht bereits architektonisch die enge Verzahnung des pfarrkirchlichen und politischen Zentrums. Die Autorin distanziert sich jedoch zu Recht von einseitigen Erklärungsmodellen zu Backsteinpfarrkirchen als Ausdruck einer autonomen Bürgerstadt. Der in der Forschung in diesem Kontext häufig verwendete Begriff der "Ratskirche", der bereits in den 1960er-Jahren aus patronatsrechtlichen Gründen verworfen wurde [5], evoziere ein einseitiges Bild der Nutzung (30). Aber auch Weitzel kann ihn nicht ganz umgehen, kommt doch der Nikolaikirche für die Ratsherrschaft mit der Verortung des Ratsgestühls in der südlichen Turmhalle, den Kapellenstiftungen und der Kirchenpflegschaft eine zentrale Rolle zu (231ff.).
Weitzel vermag anhand einer überaus verdienstvollen systematischen Quellenrecherche die liturgische Ausstattung und die rituellen Handlungen über einen langen Zeitraum in Relation zu setzen. Neun Archivfunde werden im Anhang transkribiert wiedergegeben. Dabei kann sie sogar jüngste Forschungsergebnisse in einzelnen Aspekten korrigieren. Der in der Einleitung betonte raumsoziologische Ansatz wird im Hauptteil jedoch nur implizit verfolgt und auch in der Schlussbetrachtung nicht herausgestellt. Nichtsdestotrotz veranschaulicht die Autorin in ihrer grundlegenden Untersuchung sowohl eine Ausdifferenzierung der Teilräume und des Gesamtraumes durch die zunehmende Komplexität der Ausstattung als auch strukturbildende Überlagerungen von Räumen an wichtigen liturgischen Orten. Ergänzend bietet die Publikation neben einem Personen- und Ortsregister qualitativ sehr gute Abbildungen.
Anmerkungen:
[1] Michael Huyer: Die Stralsunder Nikolaikirche. Die mittelalterliche Baugeschichte und kunstgeschichtliche Stellung. Mit formalanalytischen Betrachtungen zu den Architekturgliedern der Domchöre in Lübeck und Schwerin, der Klosterkirche Doberan und der Pfarrkirchen St. Marien in Lübeck und Rostock (= Beiträge zur Architekturgeschichte und Denkmalpflege in Mecklenburg und Vorpommern; Bd. 5), Schwerin 2005.
[2] Antje Grewolls: Die Kapellen der norddeutschen Kirchen im Mittelalter. Architektur und Funktion, Kiel 1999.
[3] Gerhard Weilandt: Die Sebalduskirche in Nürnberg. Bild und Gesellschaft im Zeitalter der Gotik und Renaissance (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; Bd. 47), Petersberg 2007.
[4] Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt a.M. 2001, 198-203, zur abschließenden These 272.
[5] Hellmuth Heyden: Die Kirchen Stralsunds und ihre Geschichte, Berlin 1961, 23.
Yvonne Northemann