Holger Berwinkel / Martin Kröger (Red.): Die Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich. Geschichte, Akteure und archivische Überlieferung (1871-1918). Beiträge des wissenschaftliches Kolloquiums zum 90. Gründungstag des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes am 3. August 2010, München: Oldenbourg 2012, 184 S., 17 Farb-, 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-71637-5, EUR 24,80
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Ein etwas allgemeiner formulierter Titel wie "Zur Außenpolitik deutscher Länder im Kaiserreich" würde das Anliegen des Buches genauer beschreiben. Es geht in diesem Buch wirklich nicht um "die" Außenpolitik "der" deutschen Länder, sondern nur um einzelne Aspekte der Außenpolitik einzelner Bundesstaten im Kaiserreich - also eher nur um "Fallbeispiele", wie auch auf dem Cover steht. Nur Bayern, Sachsen und die Hansestädte werden mit selbstständigen Beiträgen bedacht.
Ein eher wohl als allgemeine Einführung gedachter Essay von Schöllgen "Gefangen im Erfolg. Deutsche Außenpolitik von 1871-1918" lässt sich jedoch überhaupt nicht unter "Außenpolitik deutscher Länder" einordnen, gleich wie man sie fassen mag. Es werden nur ganz allgemeine und allgemein bekannte Grundzüge der deutschen Außenpolitik wenig kontrovers entwickelt, keine neuen Forschungsergebnisse, nur ein Essay, der den Abdruck wohl nur der Tatsache verdankt, dass er einer der Beiträge des wissenschaftlichen Kolloquiums zum 90. Gründungstag des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts am 3. August 2010 gewesen ist. Kein einziges deutsches Land wird in diesem Aufsatz namentlich erwähnt.
Dies gilt in gewisser Weise auch für den Schlussbeitrag von Martin Kröger "Zur Gründung des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts". Er wurde, wie der Autor freimütig zugibt, nur geringfügig verändert und ist bereits 2008 in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft veröffentlicht worden. Zwei der sechs Beiträge haben mit dem engeren Thema des Bandes also nichts zu tun.
Die anderen vier Beiträge behandeln Aspekte des Themas, sind aus Archivrecherchen hervorgegangen und bereichern schon allein deshalb die Geschichtswissenschaft auf einem Gebiet, auf dem bisher über die Landesgeschichte hinaus nur wenig geforscht wurde, nämlich zur Außenpolitik der deutschen Länder im Kaiserreich. Dass so wenig geforscht wurde, kommt nicht von ungefähr. Man fragt sich mit einigem Recht: Gab es diese Außenpolitik überhaupt? Und genau entlang dieser Frage sind diese Beiträge angesiedelt.
Allgemein lässt sich sagen, die außenpolitischen Aktivitäten deutscher Länder bezogen sich hauptsächlich auf andere deutsche Länder, weniger auf das eigentliche Ausland, weswegen die meisten Länder - Ausnahmen sind Bayern und Sachsen - ihre auswärtigen Vertretungen auch schnell abbauten. Es kennzeichnet jedoch die Bedeutung selbst der bayerischen Gesandtschaft in Paris, wenn der bayerische Staatsminister Podewils deren Rolle mit den ernüchternden Worten beschreibt: "Es gibt in [...] unserer Zeit noch reichlich Gebiete außer dem eigentlich und ausdrücklich politischen, auf denen sich die amtliche Tätigkeit eines Diplomaten bewähren kann". (48) So dienen die Gesandtschaften Bayerns oder auch Sachsens mehr dem Status und dem diplomatisch gesellschaftlichen Verkehr, als dass ihnen darüber hinaus eine reale Bedeutung zugekommen wäre. Der diplomatisch-gesellschaftliche Verkehr ist allerdings auch zwiespältig zu sehen. Er eröffnet zwar zusätzliche Informationswege, aber für Freund und Feind.
Gerhard Hetzer, Direktor des Bayerischen Hauptstaatsarchivs, hat in seinem Aufsatz die Rolle der bayerischen Gesandtschaften untersucht. Bayern und erst recht die anderen Länder ordneten sich außenpolitisch nolens volens weitgehend den Vorgaben der Reichsregierung unter, weil sie loyal waren oder weil ihr Gewicht zu unbedeutend war, aber auch, weil sie im Rahmen der Reichsverfassung mögliche Handlungsspielräume nicht wahrnahmen, nämlich über den Bundesratsausschuss für auswärtige Angelegenheiten Einfluss zu nehmen. Letzteres gilt insbesondere für Bayern als dem bedeutendsten Bundesstaat nach Preußen, wie Hetzer den Stand der landesgeschichtlichen Forschung resümiert. Neben dem Gesandtschaftswesen behandelt er die Vorgänge bei Ausbruch und während des Ersten Weltkrieges und die Veröffentlichungen bayerischer Akten in der Folgezeit.
Jörg Ludwig vom Hauptstaatsarchiv Dresden gibt einen Überblick über "Die Institutionen und Archivbestände" zur sächsischen Außenpolitik. Er dokumentiert insbesondere die Kontroversen im sächsischen Landtag, dessen liberale Abgeordnete die sächsischen Gesandtschaften als überflüssig und zu kostspielig ansahen und deshalb schließen wollten.
Antjekathrin Graßmann, langjährige Direktorin des Stadtarchivs Lübeck, untersucht das gerade für die Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck so wichtige Konsularwesen, insbesondere den Übergang eigener, aufgrund langer Handelsbeziehungen gewachsener konsularischer Vertretungen zu Konsulaten des Reichs, welcher sich im Großen und Ganzen harmonisch gestaltete. Das Konsularwesen sollte anders als die Gesandtschaften vollständig vom Reich übernommen werden. Wohl deswegen hat Holger Berwinkel im Anhang die wenig bekannten "Rechtsquellen zur 'Verreichlichung' des Konsularwesens" aufgenommen.
Während Hetzer, Ludwig und Graßmann sich jeweils nur auf "ihr" Land bzw. auf die Freien Hansestädte beziehen, beschäftigt sich Sebastian Damm, Diplomat im auswärtigen Dienst, mehr zusammenfassend und vergleichend mit der Außenpolitik deutscher Länder. Daher dürfte sein Beitrag wohl der gewinnbringendste sein. Damm untersucht zum einen die Frage, inwieweit es Ansätze zu einer eigenständigen und sogar gegen Preußen gerichteten Außenpolitik gab. Die gab es vor allem zwischen 1866 und 1871. Hier arbeitet Damm die distanzierte Haltung vieler Staaten des Norddeutschen Bundes während der Luxemburger Krise 1867 heraus und auch die sehr zwiespältige Haltung Hessen-Darmstadts unmittelbar vor dem Krieg 1870. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Zeit des Ersten Weltkrieges. Hier wird der durchaus vorhandene Unmut Bayerns, Sachsens und auch der Hansestädte über eine Außenpolitik des Reiches ohne Abstimmung mit den Bundesstaaten thematisiert, ferner die recht weitgehenden und konkurrierenden Balkanambitionen Bayerns und Sachsens.
Unerwartet: Im Anhang hat Martin Kröger - einem Repertorium ähnlich - die "Akten zu den auswärtigen Beziehungen Preußens zu den anderen Bundesstaaten im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes (1866-1920)" zusammengestellt. In diesen Akten dürfte sich die Außenpolitik der deutschen Länder manifestieren, soweit sie als Außenpolitik gegenüber dem Reich und gegenüber Preußen in Erscheinung tritt. Die verdienstvolle Absicht ist wohl, weiter gehende Forschungen anzuregen.
Misslich ist jedoch bei einem Band, der die Außenpolitik deutscher Länder zum Schwerpunkt hat, dass es keinen Forschungsbericht über die durchaus vorhandene (auch ältere) Literatur gibt, nicht einmal eine Bibliographie! Diese zu initiieren ist wohl Aufgabe eines Herausgebers. Herausgeber ist jedoch ganz allgemein das "Auswärtige Amt". Holger Berwinkel, Martin Kröger und Janne Preuß firmieren nur unter "Redaktion" und tragen somit nur wenig Verantwortung. Inhaltlich wünschte sich so mancher Leser vielleicht auch einen Beitrag über das (Nicht-)Wirken der Länder im Bundesratsausschuss für auswärtige Angelegenheiten.
Fazit: Nicht nur ein Festband, sondern ein Festband mit einem Thema, aber mit einer in dieser Zweiheit häufig einhergehenden Misslichkeit: Nicht alle Beiträge haben mit dem Thema zu tun und es gibt thematische Desiderata. Das schmälert jedoch mitnichten die vorhandenen, wissenschaftlich wertvollen Beiträge zur Außenpolitik deutscher Länder, der mit diesem Band über die engere Landesgeschichte hinaus allgemeinere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Dies geht zweifelsohne auch auf das Konto des Herausgebers: des Auswärtigen Amtes.
Manfred Hanisch