David Ganz / Thomas Lentes (Hgg.): Sehen und Sakralität in der Vormoderne (= KultBild. Visualität und Religion in der Vormoderne; Bd. 4), Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2011, 309 S., 24 Farb-, 86 s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01314-3, EUR 69,00
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In den vergangenen Jahrzehnten beschränkten sich die Bemühungen, dem 'Sehen' seinen gebührenden Platz innerhalb der historisch ausgerichteten geisteswissenschaftlichen Forschung einzuräumen, vornehmlich auf die Geschichte der Optik und der Perspektive. Erst in jüngerer Zeit lässt sich eine Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Sehen als einem physiologischen Vorgang hin zu den kulturgeschichtlichen Implikationen des Blickens feststellen. Die englischsprachige Forschung hat für diese Unterscheidung eine Begriffsdifferenzierung vorgenommen, indem sie dem in seiner engeren Bedeutung auf den Wahrnehmungsprozess beschränkten Begriff der 'vision' den der 'visuality' gegenübergestellt hat. Obgleich im Titel ganz allgemein vom 'Sehen' die Rede ist, lässt sich der vorliegende Band als einer der wichtigsten jüngeren Beiträge zur Visualitätsforschung bezeichnen.
Der vierte und nunmehr letzte Beitrag zu der beim Reimer-Verlag erschienenen Reihe "KultBild. Visualität und Religion in der Vormoderne" ging aus der mehrjährigen Zusammenarbeit des fächerübergreifenden Münsteraner "Netzwerks Visualität" hervor. Entsprechend zählen Interdisziplinarität und methodische Vielfalt zu den Merkmalen, die diesem Band die Aufmerksamkeit eines breiten Fächerspektrums sichern dürften. Innovativ an seiner Konzeption ist auch die Betonung der Praxis, des Vollzugs kultureller Praktiken, bei denen das Sehen eine zentrale Rolle spielt. Der Verzicht auf eine stärkere zeitliche Eingrenzung der Themen hängt vermutlich mit dem Zuschnitt der Reihe zusammen. Angesichts des von der frühchristlichen Zeit bis ins 18. Jahrhundert reichenden Spektrums der Beiträge stellt sich allerdings die Frage, ob die Konzentration auf einen engeren historischen Zeitrahmen nicht zu einem klarer konturierten Gesamtbild geführt hätte. Hilfreich wäre es auch gewesen, einleitend zu klären, was unter dem Begriff des 'Blicks' verstanden wird, da an einigen Stellen des Bandes der 'Blick' keinerlei Rückbindung an den physiologischen Vorgang des Sehens mehr aufweist. Im Extremfall kann der 'Blick' zur reinen Metapher werden, etwa dann, wenn er in der Wendung des 'Blicks auf' etwas gleichbedeutend wird mit der 'Haltung zu' oder der 'Interpretation von' einem bestimmten Sachverhalt.
Mit seiner eingehenden Analyse von Hieronymus Boschs Todsündentafel im Prado, die mannigfache Konstellationen des Sehens präsentiert, liefert Thomas Lentes ein Panorama der in den folgenden Beiträgen vorgestellten Thematisierungen des Blicks im Christentum. Unter Einbeziehung der zeitgenössischen Diskurse, die um das körperliche Sehen und die Metapher des 'Sehens' kreisen, zeigt Lentes das reiche Beziehungsgeflecht auf, in das der göttliche und der menschliche Blick in diesem Werk zueinander gesetzt werden.
Unter der Überschrift "Augenzeugen" schließen sich Beiträge an, die sehr unterschiedliche Konstellationen der visuellen Zeugenschaft thematisieren. Andreas Matena stellt einen Wandel in der Deutung der Thomasperikope des Johannes-Evangeliums fest: Das ursprüngliche Zeugnis eines sehenden Thomas werde in der patristischen Literatur zu dem eines berührenden Apostels uminterpretiert. Matena entfaltet die These, dass sich dieser Deutungswandel der vor allem gegen die Gnostiker gerichteten Auffassung vom wahrhaftigen menschlichen Leib des Auferstandenen verdanke. Heike Schlie untersucht in ihrem Beitrag die um 1100 entstandenen Reliefs im Kreuzgang von S. Domingo de Silos. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei das Relief mit der Grablegung und den drei Marien am Grabe, das in einer sehr ungewöhnlichen Übereinanderblendung beider Episoden das Grab Christi als von seinem Leichnam belegtes Grab zeigt. Den Verstoß gegen die Darstellungskonventionen gerade bei dieser Kern-Szene christlicher Bildschöpfung erklärt Schlie anhand der örtlichen sakralen Topografie. Hier, wie auch in den übrigen Reliefs, beziehe man sich auf die Zeugnisfunktion, die vor allem Heilige als Offenbarungsinstrumente auf Erden übernehmen. Assaf Pinkus hingegen versucht, den 'Realismus' oder 'Naturalismus' der Kunst des späteren Mittelalters in seinem kulturellen Kontext zu verorten, indem er die neue Art der Wirklichkeitsinszenierung im 14. Jahrhundert als Konsequenz eines 'voyeuristischen Blicks' beschreibt. Lucas Burkhart wiederum untersucht die Schilderung der letzten Kaiserkrönung in Rom im Jahr 1452 durch Enea Silvio Piccolomini, der als Augenzeuge von der Krönung berichtet.
Die unter der Rubrik "Schwellen" versammelten Beiträge kreisen um die Themen des Zeigens und Verbergens, der partiellen Sichtbarkeit und des versperrten Blicks. Anhand von persischen und niederländischen Miniaturen des 15. Jahrhunderts unternimmt Vera Beyer einen Vergleich zwischen Darstellungen der Gottesschau im islamisch geprägten und im christlich-abendländischen Kulturkreis. Von der Beobachtung ausgehend, dass in den westlich-abendländischen Darstellungen der Gegenstand der Schau im Bild gezeigt wird, während dieser in der womöglich einzigen erhaltenen Darstellung dieses Themas aus dem persischen Raum fehlt, fragt Beyer nach den Voraussetzungen für die unterschiedliche Behandlung von räumlicher Tiefenerstreckung und körperlichen Formen im Bild. Die Entscheidung, eine Gegenüberstellung des christlichen und des islamischen Kulturkreises in diesen Band einzubeziehen, ist sehr zu begrüßen, da das Spezifische der jeweiligen Auffassungen von Visualität erst im Kulturvergleich deutlich wird. Marius Rimmele untersucht in seinem Beitrag die metaphorische Verwendung des Vorhang-Motivs in Meister Franckes Hamburger Schmerzensmann von circa 1435. Die Implikationen und Spannungsmomente, die auf dem zweifachen Vorhangmotiv der von ihm vorgestellten Werke beruhen, erklärt Rimmele, indem er auf die neutestamentliche Exegese des Stiftshüttenmotivs im Alten Testament verweist. Esther Meier wiederum geht es um die ungewöhnliche Inszenierung des biblischen Geschehens in Rembrandts "Christus in Emmaus" von 1628/29. Die Anwendung eines starken Helldunkel-Effekts, der dem Auge des Betrachters mehr vorenthält, als er ihm zeigt, führt Meier auf die calvinistische Abendmahlslehre zurück, welche die Defizienz des körperlichen Sehens hervorhebe und ein geistiges Sehen fordere, das allein imstande sei, den nichtsichtbaren geistigen Gehalt der eucharistischen Gaben zu erfassen. Grażyna Jurkowlaniec beschreibt in ihrem Beitrag die Inszenierung von drei Gnaden- und Kultbildern in der Zisterzienser-Klosterkirche Grüssau im 18. Jahrhundert, wobei sie die gezielte Lenkung des Betrachterblicks aufzeigt, der zwischen freiem Blick und partieller Sichtbarkeit changiere.
Die unter "Blickbahnen" zusammengetragenen Beiträge befassen sich mit freigegebenen Blicken, sowie mit dem, was der Blick zu leisten vermag. Markus Späth untersucht anhand von anthropomorphen Reliquiaren des 10. bis frühen 13. Jahrhunderts aus dem nordwestdeutschen Raum die künstlerischen Strategien, die der 'Blickerzeugung' der Reliquiare dienen. Neben der Gestaltung der Augen geht Späth auf jene des Gesichts ein, die zur Generierung eines verlebendigten Blicks beitrage. Andreas Gormans stellt verschiedene mittelalterliche (Kreis-)Diagramme in einen Zusammenhang mit der 'synoptisch-panoramatischen Schau', mittels derer Gott laut dem biblischen Bericht nach Vollendung der Schöpfung die Gesamtheit seines Werks überblickte. Der 'visus perfectus', den der Mensch durch Betrachten dieser Diagramme erlangen könne, habe dem damaligen Verständnis nach die Wiederherstellung der durch den Sündenfall verloren gegangenen 'similitudo' des Menschen mit Gott ermöglicht. David Ganz untersucht in seinem Beitrag mittelalterliche Bilder der Himmelsschau, die den Blick eines im Bild dargestellten Beobachters mittels einer Linie visuell kennzeichnen. Während im Frühmittelalter der linear repräsentierte Blick vorwiegend in Darstellungen anzutreffen sei, in denen optische Messungen eine Rolle spielen, ließe er sich im 13. Jahrhundert in Darstellungen visionärer Erfahrungen feststellen. Im abschließenden Beitrag weist Susanne Wegmann darauf hin, dass die verbreitete Ansicht, Martin Luther habe in seiner 1545 in Merseburg gehaltenen Predigt eine deutliche Hierarchisierung der Sinne vorgenommen, bei welcher der Sehsinn gegenüber dem Hörsinn deutlich abgewertet worden sei, einer Revision bedarf.
Der überwiegende Teil der in diesem Sammelband zusammengetragenen Aufsätze weist ein hohes Niveau theoretischer Reflexion, sowie ein ausgeprägtes Bewusstsein für mediale Vermittlungsstrukturen auf. Diese Merkmale sowie seine Fragestellung rücken den Band in eine große Nähe zu den aktuellen, unter dem noch undeutlich konturierten Begriff der 'Bildwissenschaft' firmierenden Bemühungen, den bisherigen Themen- und Fragenkanon kunsthistorischer Untersuchung zu erweitern. Den Herausgebern ist es gelungen, einer vor allem im deutschsprachigen Raum weit offenstehenden Lücke geisteswissenschaftlicher Forschung mit einem Buch zu begegnen, das in seiner interdisziplinären Anlage die fächerübergreifende Relevanz der Visualitätsforschung offenbart.
Raphaèle Preisinger