Gunilla Budde: Blütezeit des Bürgertums. Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert (= Geschichte kompakt), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, VII + 148 S., ISBN 978-3-534-15170-7, EUR 14,90
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Gunilla Buddes in der Reihe "Geschichte kompakt" erschienene Einführung in die historische Bürgertumsforschung zum 19. Jahrhundert beschreibt ein seit etwa 1980 eifrig bestelltes, aber in den letzten Jahren weitgehend brach liegendes Forschungsfeld. Der an Studierende gerichtete knappe Überblick muss also Schneisen in eine umfangreiche, stark differenzierte Literatur schlagen, die Ergebnisse der Forschung systematisch wie zugespitzt vermitteln und über die einführenden Hinweise hinaus Anregung zu weiterer Beschäftigung geben.
Einleitend hebt die Autorin die aktuelle Rede über eine "Rückkehr" oder vielmehr die "Beschwörung" von Bürgerlichkeit hervor, um an die ambivalenten und konfliktreichen Facetten des historischen Vorbildes aktueller bürgertumsähnlicher Lebensformen zu erinnern. Kurz stellt sie die Frankfurter und Bielefelder Forschungsansätze mit ihren je eigenen, das Objekt der Beobachtung bereits grundlegend unterschiedlich definierenden Sichtweisen vor. Die so schwer zu fassende "Bürgerlichkeit" des 19. Jahrhunderts allerdings bilde die gemeinsame Basis der beiden Richtungen, die sich damit für einen kulturhistorischen, nach bürgerlichen Kategorien der Selbstbeschreibung und Weltdeutung abgestellten Zugang entschieden haben.
Entsprechend dieser Prämisse ist das Buch gegliedert. Das erste Kapitel stellt die Begriffsgeschichte und den Ursprung des so heterogenen modernen Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums in der Sozialstruktur der frühneuzeitlichen Städte dar. Sein zentraler Aspekt ist aber die bürgerliche Idee der Verbindlichkeit des eigenen Wertehimmels für die Gesamtgesellschaft, so dass die den Spielarten des Bürgertums gemeinsame Kultur als einigendes Band und damit das eigentlich erforschungswürdige Thema erscheint. Folgerichtig widmen sich die folgenden sechs Kapitel wesentlichen Dimensionen der bürgerlichen Lebenswelt zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg.
Budde gelingt es in diesen Kapiteln, mit wenigen Strichen die wesentlichen Züge der bürgerlichen Kultur darzustellen. Die freiwillige, selbstorganisierte Öffentlichkeit des Vereins, des Salons und der Blätter bereitete die Bürger auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben vor. Im Eheleben ließ sich das Ideal der Liebesheirat mit handfestem Kalkül selten widerspruchsfrei vereinen. Die Erziehung der Kinder verankerte die Trennung von maskulin codierter öffentlicher und feminin codierter privater Sphäre. Im Kapitel zur Politik beschreibt die Autorin zunächst die Verteidigung bürgerlicher Exklusivität in Wahlrecht und Kommunalverwaltung. Das vermehrte Auftreten von Fachbeamten und Berufspolitikern Ende des 19. Jahrhunderts schildert sie nicht als Verdrängung der Honoratioren, sondern als Arrangement zum beiderseitigen Vorteil. In der Revolution von 1848/49 erwies sich das Bürgertum bei aller revolutionären Semantik als ordnungsfixiert. Dennoch sei nach ihrem Scheitern Politik eine "Herzensangelegenheit" des Bürgertums geblieben, ein Rückzug ins Private fand in der Biedermeierzeit nicht statt. Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzende Schwächung des Liberalismus und Entkleidung der Nationsidee von ihren liberalen Bestandteilen sieht Gunilla Budde als die folgenreichste politische Entwicklung im Bürgertum.
Das bürgerliche Verhältnis zur Kunst beschreibt sie als ein alltägliches, kommerzialisiertes und politisches: Zur häuslichen Pflege von Musik und Literatur trat der Handel mit und die öffentliche Förderung von Kunst als Medium politischer Ideen. Das Verhältnis des Bürgertums zur Religion erfasst sie mit den Prozessbegriffen der Säkularisierug, Rekonfessionalisierung und Privatisierung. Entgegen der Rezeption aufklärerischer Ideen zeigte sich vor allem im Kaiserreich das Aufleben von Konfessionskonflikten und gleichzeitig ein eigentümlicher Rückzug religiösen Lebens in den Kreis der Familie, ein Anzeichen dafür, dass unter religiösen Chiffren säkulare Konflikte ausgetragen wurden. Die Funktion von Konsum, Geselligkeit und Festen zum Ausweis einer angemessenen Lebensführung bilden den Inhalt des siebten Kapitels und schließen die Beschreibung der Lebensweisen im bürgerlichen Zeitalter ab.
Die letzten drei Kapitel nehmen in sachlicher wie in chronologischer Hinsicht Fragen in den Blick, die bereits über die "Blütezeit" des Bürgertums hinausweisen: Das schwierige Verhältnis des Bürgertums zu Adel, Arbeitern und dem sich im Kaiserreich ankündigenden "neuen Mittelstand", die Infragestellung des bürgerlichen Lebensentwurfs durch die bürgerliche Jugend und antisemitische Strömungen und schließlich die wenig kosmopolitische Internationalisierung des deutschen Bürgertums können als Indikatoren dafür gewertet werden, dass die an utopischem Potenzial einstmals so reichen, aber zunehmend verknöchernden Kategorien der Weltbeschreibung des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert mit fortschreitendem sozialem Wandel immer weniger einer komplexeren Realität entsprachen. Obwohl es zum Programm des Bürgertums gehörte, sich immer wieder neu zu erfinden und in Zweifel zu ziehen, "sich seine Bürgerkritik gleich mit" zu erzeugen (108), scheint diese Innovationsfähigkeit Anfang des 20. Jahrhunderts in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Die Erzählung endet mit der Historisierung der These des deutschen Sonderweges, die die Bürgertumsforschung vor dreißig Jahren befeuerte, heute aber nicht mehr als gültiges Interpretament betrachtet werden könne.
An ihre einleitenden Bemerkungen anknüpfend, skizziert die Autorin im abschließenden Ausblick ein Raster von Bürgerlichkeit nach 1945, die sich in entscheidenden Punkten von ihrem historischen Vorbild unterscheide, aber deren Wurzeln unverkennbar ins 19. Jahrhundert zurückreichten. Nach wie vor vollziehe sich bürgerliche Lebensführung im Bewusstsein, einer exklusiven, auf Bildung, Besitz und Stilentscheidungen gegründeten Schicht anzugehören. Die Entscheidung, ob diese Schicht sich nur mit den Federn des erloschenen Bürgertums schmücke oder tatsächlich ein erneuertes Bürgertum zurückgekehrt sei, will und muss die Autorin zukünftigen Historikern überlassen. Dabei fällt eine eklatante Forschungslücke ins Auge, die jedoch nicht weiter thematisiert wird: Über das Bürgertum in der Weimarer Republik wissen wir weit weniger als über das Bürgertum im 19. Jahrhundert. Ohne genauere Kenntnis der Entwicklungen zwischen 1918 und 1945 bleibt fraglich, ob in der Tat Kontinuitätslinien vom 19. Jahrhundert zu einer nur vage zu definierenden "neuen Bürgerlichkeit" nach 1945 gezogen werden können. Die auch durch jahrzehntelange Forschung nicht zu beseitigende Unschärfe der Begriffe "Bürgertum" und "Bürgerlichkeit" macht dieses Unterfangen nicht leichter.
Die Autorin hat ihre Aufgabe der Einführung im gegebenen Rahmen vorbildlich gelöst. Wenn die Lektüre dieses Buches seine Zielgruppe zur weiteren Beschäftigung mit seinem Gegenstand und zur fruchtbaren Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen und Paradoxien des Bürgertums, die das Buch als roten Faden durchziehen, anregt, hat es seinen Zweck erfüllt. Das thematisch gegliederte Literaturverzeichnis weist den Weg in die Forschung und zur Erkenntnis, dass das, was scheinbar als historische Gewissheit präsentiert wird, Ergebnis langer wissenschaftlicher Debatten ist.
Mark Jakob