Rezension über:

Gunilla Budde: So fern, so nah. Die beiden deutschen Gesellschaften (1949-1989) (= Geteilte Geschichte. Deutschland 1945-2000), Stuttgart: W. Kohlhammer 2023, 259 S., 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-17-033236-2, EUR 33,00
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Rezension von:
Katharina Eger
Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg
Redaktionelle Betreuung:
Paul Blickle
Empfohlene Zitierweise:
Katharina Eger: Rezension von: Gunilla Budde: So fern, so nah. Die beiden deutschen Gesellschaften (1949-1989), Stuttgart: W. Kohlhammer 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 11 [15.11.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/11/38028.html


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Gunilla Budde: So fern, so nah

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Bereits seit Ende der 1990er-Jahre erscheinen Sammelbände und Monographien, in denen überblicksartig wie auch in Detailstudien die wechselseitigen Verflechtungen, Transfers und Abgrenzungen zwischen den beiden deutschen Staaten von 1949 bis 1990 beleuchtet werden. [1] Dennoch hallt Christoph Kleßmanns einflussreiches Konzept der "asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte" nach [2] und äußert sich bei aktuellen Veröffentlichungen in dem dezidierten Bemühen, die Entwicklung der alten Bundesrepublik nicht weiterhin als Maßstab auf die Geschichte der DDR zu übertragen. [3]

Mit ihrem neuesten Buch verfolgt Gunilla Budde ein zweifaches Anliegen. Einerseits fokussiert sie die Geschichte der beiden deutschen Staaten als Gesellschaften mit einer "reale(n) wie mentale(n) Verflechtung", die trotz Distanz als gegenseitige "Referenz- und Konkurrenzrahmen" (11) fungierten. Andererseits geht es ihr darum hartnäckige "Mythen zu entzaubern" (11), die nach wie vor die deutsch-deutsche Geschichtsschreibung prägen. Statt einer Gesamtdarstellung konzentriert sich Budde auf einzelne Aspekte, dementsprechend gliedert sie ihre Untersuchung thematisch statt streng chronologisch. In der Einleitung führt sie konzise in das Thema ein und erläutert ihr Vorgehen und ihre Quellenbasis. Es folgen sechs Kapitel mit mehreren Unterkapiteln, die sich den gesellschaftlichen Umstrukturierungen nach Ende des Zweiten Weltkrieges in den Bereichen Klassenstrukturen, Geschlechterarrangements, Bildung, Familie, Kindheit und Jugend, Konsum und zum Abschluss Zivilgesellschaften widmen.

Buddes Vorgehen orientiert sich neben einem sozial- und kulturgeschichtlichen Ansatz an einer geschlechter- und verflechtungsgeschichtlichen Perspektive. Insbesondere ihr Anliegen, "zeitgenössischen Erfahrungen und Wahrnehmungen möglichst nahezukommen und Erwartungen und Gefühle von Menschen hüben und drüben nachzuspüren" (12) spiegelt sich in ihren verwendeten Quellen wider. Diese changieren in der Bandbreite zwischen zeitgenössischen Zeitungsartikeln und Publikationen, populärkulturellen Medienerzeugnissen sowie Zeitzeug*inneninterviews. Hierbei nehmen die Interviews mit der Familie Gallas einen besonderen Platz als Inhalte des vor der Einleitung platzierten Prologs und des die Abhandlung schließenden Epilogs ein. Daneben finden sich in den Kapiteln im Hauptteil Einstreuungen der deutsch-deutschen Familiengeschichte, die laut Budde "unter ganz besonderen Vorzeichen [...] immer wieder Ähnlichkeiten, Unterschiede und Verquickungen beider deutscher Gesellschaften wie unter einem Brennglas vor Augen führt. " (9).

Mithilfe dieser familiengeschichtlichen Verankerung besticht Buddes Darstellung durch eine Abkehr einer "Geschichte von oben" über die Entscheidungen und Handlungen politischer Eliten im Systemwettstreit hin zu gesellschaftlichen Realitäten der darin Lebenden. Insbesondere die Kapitel, in denen sie sich mit Gleichberechtigung, Familienpolitik und Emanzipationsbestrebungen beschäftigt, kann Budde überzeugend an Themen wie Frauenbilder oder Vereinbarkeit von Beruf und Familie argumentieren und ihr doppeltes Anliegen erfüllen. Dabei stellt sie keineswegs in Frage, dass die Unterschiede der beiden Gesellschaften nach 40 Jahren Teilung überwogen. Jedoch weist sie in ihrem Schlusskapitel nachdrücklich darauf hin, propagierte Unterschiede nicht als historische Tatsachen hinzunehmen. Insbesondere den hartnäckigen Mythos der früheren Emanzipation von Frauen in der DDR im Vergleich zu denen in der BRD dekonstruiert sie nachdrücklich. Die "vollmundig verkündete durchgesetzte Emanzipation der Frauen in der DDR endete spätestens an der Haustür und bei den Spitzenpositionen in Wirtschaft und Politik" (214).

Deutlich schwächer muten dagegen Einschätzungen an wie, dass die "Verehrung der Bildung als Kern und Schlüssel der sozialen Platzierung" und das "Festhalten an der Familie, ihrer Arbeitsteilung und der Besonderheit der Mutterschaft" (213) als Ähnlichkeiten beider Teilstaaten geblieben sein. Solche beinahe schon Allgemeinplätze lassen sich ebenso über viele andere Gesellschaften treffen. Eine Leerstelle in ihrer Darstellung spricht Budde selbst an: die ständige Beobachtung durch die Staatssicherheit ließe sich aus den von ihr genutzten Quellen schwerlich rekonstruieren. Dennoch bleibt die unbefriedigende Frage nach Lesen des Buches zurück, wie weit die Aussagekraft einer verflechtungsgeschichtlichen Analyse der beiden deutschen Gesellschaften ohne diesen Aspekt reicht. Ein weiterer Punkt, der die Leser*innenschaft mitunter irritieren wird, ist der gefühlvolle Ausdruck vor allem im Prolog und Epilog, aber auch im Schlusskapitel im Gegensatz zum Hauptteil. Die Einschätzung des Zusammenwachsens der beiden Staaten nach dem Mauerfall wird adressiert mit: "So ganz zusammengekommen sind die Königskinder noch nicht." (215).

Insgesamt bietet die Monographie eine gut lesbare Darstellung einer vorrangig an Geschlechteraspekten orientierten Verflechtungsgeschichte beider deutscher Staaten. In großen Teilen gelingt Budde der Balanceakt sowohl ein Fachpublikum als auch eine interessierte Öffentlichkeit adäquat zu adressieren. Jedoch wäre die Ergänzung des Personenverzeichnisses mit einem Stichwortverzeichnis ein dankbarer Zusatz gewesen.


Anmerkungen:

[1] Siehe dazu: Arnd Bauerkämper / Martin Sabrow / Bernd Stöver (Hgg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990, Bonn 1998; Detlev Brunner / Udo Grashoff / Andreas König (Hgg.): Asymmetrisch verflochten? Neue Forschungen zur gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte, Berlin 2013; Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970-2000, Göttingen 2015; Christoph Neumaier: Hausfrau, Berufstätige, Mutter? Frauen im geteilten Deutschland (= Die geteilte Nation. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1990; Bd. 4), Berlin 2020.

[2] Hermann Wentker: Zwischen Abgrenzung und Verflechtung: deutsch-deutsche Geschichte nach 1945, in: APuZ 01-02/2005, URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/29301/zwischen-abgrenzung-und-verflechtung-deutsch-deutsche-geschichte-nach-1945/#footnote-target-4 (zuletzt abgerufen: 30.10.2023); zur Entwicklung der Forschungslandschaft: Kerstin Brückweh: Das vereinte Deutschland als zeithistorischer Forschungsgegenstand, in: APuZ, B 28-29 (2020), 4-10.

[3] Jüngst: Petra Weber: Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90, Berlin 2020.

Katharina Eger