Bettina Gockel (Hg.): Vom Objekt zum Bild. Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600 - 2000. Unter Mitarbeit von Julia Häcki und Miriam Volmert (= Zurich Studies in the History of Art, Special Issue), Berlin: Akademie Verlag 2011, 336 S., ISBN 978-3-05-005662-3, EUR 49,80
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Den 1990er-Jahren nähert sich die Kunstgeschichte bislang nur zögerlich an. Ist der markante zeitgeschichtliche Einschnitt zwischen Mauerfall und 11. September noch zu frisch, als historische oder philosophische Blicke darauf angemessen wären? Kann man in Bezug auf die Jahre nach 1989, deren Transformationen und Umbrüche bis heute nachwirken, überhaupt schon von etwas Geschichtlichem reden? Und welcher Mehrwert kann darin bestehen, sich bei den derzeit intensiv betriebenen und um die Herstellung neuer Zusammenhänge bemühten Revisionen des 20. Jahrhunderts einen so kleinen Rahmen zu wählen und eine einzelne Dekade zum Schwerpunkt von Nachfragen an das Jüngstvergangene zu machen? Bedenken der Art, Phänomene könnten für die Forschung zu klein oder noch nicht alt genug sein, würden die mit der Formanalyse Heinrich Wölfflins und der Ikonologie Aby Warburgs gesegnete Kunstgeschichte kaum aufhalten können. So ist über die 1990er-Jahre bereits während der 1990er-Jahre geforscht worden, wobei neben der 1995 erschienenen Anthologie "(Landschaft) mit dem Blick der 90er Jahre" von Kathrin Becker und Klara Wallner vor allem an die Standortbestimmungen von Ursula Frohne 1999 oder 2000 von Rudolf Frieling und Dieter Daniels am ZKM in Karlsruhe über die Medienkunst der 1990er-Jahre zu erinnern ist. Dass der von Sophie von Olfers kuratierten Ausstellung "Not in Fashion - Mode und Fotografie der 90er Jahre" von 2010 keine größeren kunst- und bildgeschichtlichen Projekte gefolgt sind, mag mit dem starken Eindruck dieser Frankfurter Schau zusammenhängen, oder die Relevanz von Aufarbeitungen der 1990er-Jahre liegt unweigerlich bei den drängenden Fragen nach der Archäologie der so dominant gewordenen Kulturtechniken des Digitalen. In diesem Sinne wird das Ende des 20. Jahrhunderts und der frühe Beginn des 21. Jahrhunderts derzeit in Siegen und Potsdam in Projekten zur Mediengeschichte diskutiert.
Der von Bettina Gockel 2011 besorgte und aus einer Tagung von 2006 hervorgegangene Sammelband "Vom Objekt zum Bild. Piktorale Prozesse in Kunst und Wissenschaft, 1600 - 2000" hat seinen Wert auch darin, sich im Textbeitrag der Herausgeberin mit bisher wohl einmaligem methodologischem Anspruch den Phänomenen der 1990er-Jahre zu widmen und dabei nicht medienwissenschaftlich oder gar bildwissenschaftlich, sondern ausdrücklich kunstgeschichtlich zu argumentieren. Der theoretische Ehrgeiz des Textes geht darin über Gedanken zur Spezifik des historischen Zugangs zu der Periode weit hinaus. Reflexionen zu Paradigmen der gegenwärtigen kunsthistorischen Forschung sind an dafür leitbildhafte Objekte aus den 1990er-Jahren gekoppelt. Dass diese Auswahl medienübergreifend getroffen wurde und mit Blicken auf Werke einer Videokünstlerin, einer Malerin und eines Fotografen ein repräsentativer Querschnitt angestrebt ist, zeigt zusätzlich das Exemplarische, auf Grundsätzliches Zielende der Ausführungen. Diese Auslotung mit dem Titel "Im Zeichen der Kunst. Zeitgenössische Stillleben von Anne Katrine Dolven, Wolfgang Tillmans, Karin Kneffel" von Bettina Gockel erörtert die Auf- und Umwertung, die materielle Dinge durch ihre bildkünstlerische Wiedergabe erfahren können und der Clou dieser für sich genommen wenig überraschenden Beobachtung liegt darin, sie in Bezug auf die unruhigen 1990er-Jahre überprüft zu haben. Wem diese Zeit durch ihre mitunter atemberaubenden und verunsichernden Entgrenzungen im Gedächtnis geblieben ist, der wird in der Rückschau auf die gerade nach 1989 erstaunlich vielfältig auflebende Ikonologie des "Objektiven" anregende Einblicke in die Widersprüchlichkeit einer Umbruchszeit gewinnen. So wie die 1990er-Jahre nicht nur von den integrativen und grenzüberschreitenden Effekten der Globalisierung und digitalen Vernetzung, sondern auch von einer massiv ansteigenden Fremdenfeindlichkeit und kriegerischen Nationalismen bestimmt waren, so sehr lässt sich diese innere Spannung durch die von Bettina Gockel fokussierten, sich am Materiellen, Unmittelbaren und Dinghaften orientierenden Stillleben als das Gegenteil zu den nur mit dem Datenhandschuh greifbaren Dingen der virtuellen Welt und den verwirrenden Weiten des Cyberspace ausmachen. Schon die schärfere Sichtbarkeit dieses kunst- und zeitgeschichtlich bedeutsamen Kontrastes macht die Studie besonders bemerkenswert.
Den Text einleitende Bemerkungen darüber, dass seit den 1990er-Jahren "die Sehnsucht nach dem Echten und Realen, nach Wirklichkeit, Praxis und Konkretion [...] bis heute weiter gewachsen" (265) wäre, vermitteln jedoch sofort einen das bloß Historische übersteigenden und stattdessen den Fortbestand der Kunstgeschichte als Wissenschaft fokussierenden Verallgemeinerungsgrad. "Insbesondere im Fach Kunstgeschichte", ist weiter zu lesen, "deutet sich nach einer Phase avancierter phänomenologischer und diskursanalytischer Ausrichtung eine erneute Selbstvergewisserung darüber an, wie der materielle Forschungsgegenstand - das Objekt Kunstwerk - in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung methodisch und theoretisch zu fassen sei." (266) Für Grundfragen wie diese wären keine wirkungsvolleren Objekte zu finden gewesen als Kunstwerke aus den 1990er-Jahren, in denen Globalisierung und Digitalisierung noch beinahe alternativlose Zukunftswegweiser waren und von denen sich die Autorin in ihrer Zeitdiagnose und Prognose kunsthistorischer Selbstvergewisserung abzugrenzen bemüht. Offenbar regte sich trotz oder gerade wegen der Globalisierungseuphorie nach 1989 schon seinerzeit Kritik daran, und die von Bettina Gockel wieder und wieder beschworene "industrielle Bildproduktion" (268), die "nivellierenden Tendenzen einer omnipräsenten Bildkultur" oder sogar die "Nivellierung von Bild und Kunst zugunsten des Bildes" (299) als des scheinbar ganz Anderen der Kunst erinnern intensiv an die in den 1990er-Jahren oft angemahnte Korrektive gegen die digital erzeugte, sogenannte "Bilderflut". In diese Richtung zu Ende gedacht, wäre das mitunter Manifest-Charakter tragende Buch "Vom Objekt zum Bild" treffender "Vom Bild zum Objekt" genannt worden.
Mit ihrem Text den Schlussbeitrag des Sammelbandes bildend und damit auf ihre ambitionierte Einleitung am Anfang des Bandes antwortend, hat die Autorin und Herausgeberin das erste und letzte Wort beansprucht und so ihrer Publikation optisch und inhaltlich einen Rahmen gegeben, an dem auch alle anderen Beiträge des Buches gemessen werden müssen. Nach diesen Kriterien wirken die hier zu findenden, anspruchsvollen Ausführungen z.B. über holländische Stilllebenmalerei des 16.Jahrhunderts (Norbert Schneider), zur Geschichte der Kunstsammlungen im England des 18. Jahrhunderts (Karin Leonhard) oder zur Tiermalerei des 19. Jahrhunderts (Petra Lange-Berndt) wie ein "Zurück in die Zukunft", die mit der Kulturkritik der 1990er-Jahre begann. Was die Einschätzung der Einzelbeiträge als Historisierungen oder Tradierungen der den Band leitenden Frage nach Objekten, "die als Dinge einen lebensweltlichen Bezug haben und mit Emotionen und Werten, Handhabungen und Anschauungen verknüpft wiederum im Bild isoliert, ästhetisch aufgeladen, erneuert und verändert werden" (11) zusätzlich erschwert, ist die Widersprüchlichkeit, dass diese Sammlung trotz aller Fingerzeige in diese Richtung doch "keine Studie zur Geschichte des Stilllebens" sein möchte (11). Der Band verweigert sich dem Ästhetizismus der Gattungs-Hierarchisierung, berücksichtigt zugleich aber auch das Know-how der vor allem in Berlin betriebenen kunst- und bildhistorischen Objektforschung nicht konsequent. Vielleicht lag die Intention in einem Plädoyer für eine Art "neue Sensibilität"? Doch das Werk positioniert sich mit Seitenblicken auf einschlägige aktuelle Forschungsergebnisse zur Geschichte und Gegenwart des Stilllebens, ein Essay über Spuren-Bilder in den Wissenschaften (Friedrich Weltzien) ist die Bildwelten des Wissens als "stillgestelltes Leben" (189) zu deuten bemüht, und nicht einmal die Herausgeberin selbst hat sich mit ihrem Beitrag außerhalb der sicheren Basis der Motiv- und Ideengeschichte des Stilllebens stellen wollen. Das Emotional-Lebensweltliche erweist sich einmal mehr als ein schlechter Ratgeber bei kunsthistorischen Selbstvergewisserungen.
Ein wenig ist die Textsammlung auch in ihrer Generösität, "kennerschaftliche, ideengeschichtliche, sozialhistorische wie historisch-epistemologische ebenso wie feministische und strukturalistische Ansätze" (14) im Zeichen der Kunstgeschichte miteinander versöhnen zu wollen, den Umarmungsgesten der "Come-Together"-Mentalität der 1990er-Jahre verpflichtet. Kostbar ist der Sammelband von Bettina Gockel sicher nicht darin, die nach 1989 so leidenschaftlich diskutierten und bis heute einfach nicht abklingen wollenden Konflikte zwischen Analog und Digital, Wirklich und Virtuell, Real und Künstlich in einer selten so aufwändigen Weise erneut zum Gegenstand einer historisch übergreifenden Forschungsfrage gemacht zu haben. Gewiss gibt es Positionen, die ein solches Denken in Dichotomien und Oppositionsschemata aufbrechen, und diese Alternativen sind vor allem auch in der kunsthistorischen Bildforschung der 1990er-Jahre zu finden. Bettina Gockel ist jedoch ein Band gelungen, der wie kaum ein anderer die vertiefte problem- und ideengeschichtliche Aufarbeitung der 1990er-Jahre als eine ebenso attraktive wie dringliche Aufgabe nahelegt.
Jörg Probst