Bettina Marten / Ulrich Reinisch / Michael Korey (Hgg.): Festungsbau. Geometrie - Technologie - Sublimierung, Berlin: Lukas Verlag 2012, 407 S., ISBN 978-3-86732-136-5, EUR 40,00
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Der vorliegende, schlicht mit "Festungsbau" überschriebene Aufsatzband geht auf eine Tagung zurück, die 2008 in Dresden stattgefunden hat. Sie wurde gemeinsam veranstaltet vom Institut für Kunst- und Musikwissenschaft der Technischen Universität Dresden, vom Mathematisch-Physikalischen Salon der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und vom Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Festungsforschung fristete lange Zeit ein Schattendasein in der akademischen Forschung der Bundesrepublik Deutschland. Das hat sich erfreulicherweise in den letzten Jahren deutlich geändert, wofür auch das hier zu besprechende Buch steht.
Anders als in der Burgenforschung lässt sich der wissenschaftliche Diskurs im Bereich des Festungsbaus bis in die Anfänge zurückverfolgen. Die Reaktion auf die steigende Wirkung von Feuerwaffen zeitigte in den Jahrzehnten um 1500 zahlreiche Neuerungen in den Befestigungstechniken von Städten und fürstlichen Residenzen, die zeitgleich von theoretischen Abhandlungen begleitet wurden. Zudem entwickelte sich rasch eine verbindliche Nomenklatur für die einzelnen Elemente des frühneuzeitlichen Festungsbaus, die eine Diskussion um terminologische Fragen, wie sie in der Burgenforschung üblich ist, weitgehend überflüssig macht. Die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Traktatliteratur - schwerpunktmäßig behandelt werden in einzelnen Aufsätzen Niccolò Fontana Tartaglia, Albrecht Dürer, Sebastiano Serlio, Daniel Specklin, Leonardo da Vinci, Buonaiuto Lorini, Galileo Galilei und Bernard Forest de Bélidor - ist jedoch kein einfaches Unterfangen: Die Autoren überhöhten ihre Überlegungen sprachlich und begleiteten sie mit allerlei mathematischer Berechnungen, nicht zuletzt, um dieses neuartige Thema, das keine Rückbindung an antike Bautraditionen aufweisen konnte, zu nobilitieren. Dasselbe gilt beim Nachvollzug der Verwendung von zeitgenössischem technischem Gerät für die zeichnerische Arbeit an Festungsentwürfen (Zirkel), wie für die Vermessung in der Landschaft oder zum Bedienen von Kriegsgeräten (Quadrant). Dass sich der Band diesen Themenfeldern, wie auch der praktischen Umsetzung - mit Beispielen aus den Alten Niederlanden, dem Tagungsort Dresden und dem Exkursionsziel Terezín (Theresienstadt) - stellt, ist nicht sein geringster Verdienst.
Nach den für Tagungspublikationen üblichen Präliminarien (Vorwort und Begrüßung) sowie einer Einführung in die durchdachte Konzeption von Tagung und Publikation, gliedern sich die 20 Aufsätze, davon sechs in englischer Sprache, in vier Abschnitte: "Mediale Aspekte des Festungsbaus", "Festungen zwischen Macht und Technologie", "Festungen zwischen theoretischer und praktischer Geometrie" sowie "Strategien der Sublimierung und Kulturierung". Schon diese Überschriften machen deutlich, dass der Band nicht ganz frei ist von sprachlichen (und methodischen) Manierismen (z.B. "Kulturierung", wohl im Sinne von kultureller Aneignung), ohne die man heute nicht auszukommen meint.
Angesichts der Fülle an Beiträgen und Themen können hier nur einige Aspekte näher vorgestellt werden. Ralf Gebuhr beschäftigt sich kundig mit "Festungsbau und geometrischer Praxis". Er unterstreicht die Bedeutung von zeichnerischen Darstellungen der Festungsanlagen, die in der Ebene dem Blick des Betrachters nahezu entzogen sind, in Form von Plänen und Vogelschauansichten. Wie diese in einem konkreten Beispiel aussehen, zeigt Bernhard Roosens anhand "Neue[r] Festungsstädte in den alten Niederlanden zur Zeit Karls V. und Philipps II. Mariembourg, Hesdinfert, Charlemont und Philippeville". Diese Städte entstanden in der Mitte des 16. Jahrhunderts entlang der Südgrenze der habsburgischen Niederlande gegen den König von Frankreich, der ebenfalls in dieser Zeit fortifikatorisch aufrüstete, sodass der niederländisch-französische Grenzraum unter Einbezug italienischer Ingenieure zu einem Experimentierfeld des bastionierten Festungsbau von europäischer Bedeutung wurde.
Vor dem Hintergrund einer profunden Kenntnis der festungskundlichen Traktatliteratur, vor allem des 17. Jahrhunderts, beschäftigt sich Stefan Bürger mit Theorie und Praxis in der Architectura Militaris. [1] Er beschreibt gut nachvollziehbar das Dilemma zwischen der Theorie der mathematischen Wissenschaften, allen voran der Geometrie, und der Praxis der Kriegsführung. Letztlich hatte schon Daniel Specklin am Ende des 16. Jahrhunderts als Grundlagen für den Festungsbau die Mathematik - im Hinblick auf den Entwurf die Geometrie und im Hinblick auf die Kalkulation von Baukosten und Material die Arithmetik -, die mechanischen Künste, die Bauausführung betreffend, und schließlich die Erfahrung in der Kriegskunst als gleichberechtigt nebeneinander stehend angesehen.
Herzstück des letzten Abschnittes ist der Beitrag von Mitherausgeber Ulrich Reinisch (Angst, Rationalisierung und Sublimierung. Die Konstruktion der bastionierten, regulären Festung als Abwehr von Angstzuständen). Reinisch zeichnet noch einmal die Diskussion um die Erfindung des Bastionärsystems nach und setzt sich kritisch mit der Frage auseinander, ob die Ausschaltung "Toter Winkel" im Vorfeld der Festung tatsächlich der entscheidende Movens zur Entwicklung der bastionierten Front war. Er weist nach, dass auch regular angelegte Festungen mit Rondellen kaum Flächen von den Verteidigungsgeschützen unbestrichen ließen; auch hier war dem Angreifer eine ungeschützte Annäherung an das Mauerwerk nahezu unmöglich. Der Verfasser schließt daraus, dass es andere Gründe für den weltweiten Siegeszug des Bastionärsystems gegeben haben muss. Als Grund hierfür sieht er die Form der Bastion, die in das Vorfeld vorspringt und damit eine "aggressive Abwehr" symbolisiere. Die durch den frühneuzeitlichen Kanonendonner ausgelösten Angstzustände werden nach Reinischs "psychoanalytischem Deutungsansatz" durch das Bastionärsystem bewältigt und überwunden. So reizvoll diese Überlegungen auch sind, stellt sich doch unweigerlich die kritische Frage, welcher Erkenntnisgewinn damit verbunden ist. Auch wenn es Alternativen zum Bastionärsystem gab, die übrigens im 19. Jahrhundert weite Verbreitung fanden, war die Bastion die zentrale Bauform des frühneuzeitlichen Festungsbaus - und das sicherlich nicht nur aus psychologischen Gründen, sondern auch aus praktischen Erwägungen. Die Bastion war keine vollkommene verteidigungstechnische Lösung, aber eine sehr wirkungsvolle. Hier versucht der Autor klüger zu sein, als die zeitgenössischen Theoretiker und Ingenieure, mit denen er sich auseinandersetzt.
Schließlich sei noch auf die Ausführungen von Marion Hilliges (Die Kugel in der Mauer. Zur semantischen Aufrüstung von Fassaden in der Renaissance) verwiesen, die ein Kapitel ihrer 2011 erschienenen Dissertation aufgreift. [2] In Fortführung der Überlegungen Reinischs sieht sie in der Verwendung von Kugeln in der Fassadengestaltung von Toren und Mauern eine Sublimierungsstrategie. Die zuerst reale Kanonenkugel, die eingemauert wird, ist Trophäe und apotropäisches Zeichen zugleich. Das Kugelmotiv übernimmt nach Hilliges ganz allgemein diese Bedeutungsebene - ein interessanter, aber auch diskussionswürdiger Beitrag zur frühneuzeitlichen Architekturikonografie.
Der Band wird abgeschlossen durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis - sämtliche Literaturangaben in den Anmerkungen sind abgekürzt und werden hier aufgelöst - sowie ein Orts- und Personenregister. Das immerhin 30-seitige Literaturverzeichnis könnte dem unbedarften Leser nahelegen, hier eine Bibliografie der einschlägigen Literatur zum Festungsbau vor sich zu haben, was aber keineswegs der Fall ist. So sucht man weitgehend vergeblich nach den Publikationen der seit mehr als 30 Jahren aktiven Deutschen Gesellschaft für Festungsforschung e.V., obgleich man hier zu den in den Aufsätzen behandelten Themen reichhaltiges Material gefunden hätte. Dennoch liegt hier ein anregender Aufsatzband vor, der die Diskussion um die Entwicklung und Bedeutung des frühneuzeitlichen Festungsbaus nachhaltig befruchten wird und dem zudem der Verlag mithilfe der Gerda Henkel Stiftung ein angemessenes "Decorum" gegeben hat.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Stefan Bürger: Architectura Militaris. Festungsbautraktate des 17. Jahrhunderts von Specklin bis Sturm (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 176), München / Berlin 2013 (Erscheinen angekündigt).
[2] Marion Hilliges: Das Stadt- und Festungstor. Fortezza und sicurezza - semantische Aufrüstung im 16. Jahrhundert, Berlin 2011; vgl. hierzu die Besprechung von Guido von Büren in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 5 [15.05.2012], http://www.sehepunkte.de/2012/05/20748.html.
Guido von Büren