Dan Michman: Angst vor den "Ostjuden". Die Entstehung der Ghettos während des Holocaust. Aus dem Engl. übers. von Udo Rennert (= Die Zeit des Nationalsozialismus; 18208), Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2011, 281 S., ISBN 978-3-596-18208-4, EUR 14,99
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Begriff "Ghetto" symbolisiert wie kaum ein anderes Wort das jüdische Leben und Leiden während des Holocaust. Die 1939 erstmals in Polen eingerichteten Ghettos trugen maßgeblich zur Isolierung der Juden von anderen Bevölkerungsgruppen bei. Sie unterstanden fast durchweg lokalen (militärischen oder zivilen) Besatzungsbehörden, die einzelne Wohnviertel innerhalb von Städten kurzerhand zu Sperrgebieten erklärten. Dabei kam es zu Großghettos wie Litzmannstadt (Lodz) oder Warschau mit zeitweise 160 000 beziehungsweise 500 000 Insassen, aber es existierten auch so genannte Dorfghettos mit wenigen hundert Menschen. Nicht immer waren die Ghettos vollständig von der Außenwelt abgeriegelt, doch lebten in ihnen fast ausschließlich Juden (sowie zum Teil die aus den Zigeunerlagern dorthin verschleppten Roma und Sinti). Die Lebensbedingungen waren geprägt von Armut, Hunger und Krankheiten; binnen kurzer Zeit herrschten fast immer katastrophale Zustände. Der Alltag wurde zum Teil durch die Besatzungsmacht geregelt, zum Teil durch die von dieser eingesetzten Judenräte.
Zunächst spielte Zwangsarbeit keine zentrale Rolle, 1940 wurden jedoch Ghettobetriebe errichtet oder jüdische Arbeitskräfte für Unternehmen oder Lager außerhalb rekrutiert, um so Gelder für den Unterhalt des Ghettos zu erwirtschaften. Nach dem heutigen Stand der Forschung ist davon auszugehen, dass die deutschen Besatzer in Ostmittel- und Osteuropa insgesamt 1000-1200 Ghettos errichteten, von denen einige über Jahre, andere nur wenige Wochen bestanden. Geschätzt wird, dass etwa zwei Drittel der späteren Opfer des Holocaust in Polen, Lettland, Litauen, Ungarn und Transnistrien und etwa 50 bis 60 Prozent aller verfolgten Juden zeitweise in einem Ghetto hausen mussten. Von diesen sind wohl 600 000-1 000 000 in den Ghettos selbst umgekommen. Charakteristisch ist schließlich, dass das Ghetto den "Vorhof" der "Endlösung" darstellte, da die Insassen von hier aus in die Vernichtungsstätten deportiert wurden.
Einige der Grundannahmen der NS-Forschung über das Ghetto stellt Dan Michman in seiner hier zu besprechenden Studie in Frage. Michman ist ein ausgewiesener Kenner der Geschichte des west- und osteuropäischen Judentums sowie des Holocaust und fragt in seinem Buch, das auch auf Englisch erschienen ist [1], ob die Ghettoisierung tatsächlich als zentrale Erfahrung aller europäischen Juden während des Holocaust anzusehen ist und ob die Judenräte "intrinsisch mit dem Phänomen der Ghettos" (12) verbunden waren. Und schließlich: Stellte das Ghetto tatsächlich eine Vorstufe in einem zentral geplanten Vernichtungsprozess dar, der in die "Endlösung" mündete?
Michman untersucht die Begriffsgeschichte des Wortes "Ghetto" und den Bedeutungswandel, den dieses in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren in Deutschland erfuhr, die Ursachen für die Entstehung von Ghettos in den besetzten Gebieten sowie die dort herrschenden, zum Teil sehr unterschiedlichen Verwaltungspraktiken - und nicht zuletzt auch die Gründe, warum die Ghettobildung nahezu ausschließlich auf Ost(mittel)europa begrenzt blieb. Seine Ergebnisse hat er in sechs Thesen zusammengefasst: Die Einrichtung der Ghettos war erstens "eher psychologischer als bürokratischer Natur" (161). Nicht administrative oder planungsorientierte Überlegungen waren - so argumentiert Michman - handlungsleitend, sondern die Angst der deutschen Akteure am Ort vor dem kulturellen Stereotyp des "Ostjuden" und vor den osteuropäischen Judenvierteln, die man als "Brutstätte" des "gefährlichen Juden" ansah. Ghettos wurden daher zweitens nicht flächendeckend als zentral geplantes Herrschaftsmittel eingerichtet, sondern dort, wo bereits verarmte Judenviertel bestanden. "Im Lichte eines aktiven Antisemitismus nötigte die unmittelbare Begegnung mit dem osteuropäischen Ghetto und den osteuropäischen Juden [...] die deutschen Behörden am Ort, etwas gegen ein Phänomen zu unternehmen, das als eine existentielle Bedrohung wahrgenommen wurde" (162). Das 1938 erschienene Buch des Bevölkerungsökonomen und Ostforschers Peter-Heinz Seraphim Das Judentum im osteuropäischen Raum habe dafür den wissenschaftlichen Unterbau geboten. Drittens zeigt Michman, dass die Ghettos keineswegs nach einem einheitlichen, vorab festgelegten Muster organisiert waren. Vielmehr unterlag der Begriff zahlreichen Wandlungen ebenso wie die konkreten Ausformungen dessen, was die Nazis darunter verstanden. Insofern sind die NS-Ghettos viertens als ein Terrorinstrument eigener Kategorie anzusehen und klar etwa von den einheitlich strukturierten Konzentrationslagern zu unterscheiden. Fünftens belegt der Verfasser, dass zwischen Judenräten und Ghetto kein unauflöslicher Konnex bestand - auch wenn die deutschen Behörden dort meistens Judenräte installierten. Vielmehr setzten die Nationalsozialisten beides - Judenrat und Ghetto - als Kontrollinstrument ein, um die jüdischen Gemeinden von ihrer Umgebung zu isolieren. Während die SS Judenräte daher überall in Europa einrichtete, existierten die NS-Ghettos nur in Osteuropa und auch dort nicht überall (170). Sechstens und abschließend hebt Michman hervor, dass die Einrichtung der NS-Ghettos zwar eine deutliche Verschärfung der nationalsozialistischen Judenpolitik darstellte, aber keine Vorstufe der "Endlösung" (172). Der Transformation vom traditionellen osteuropäischen Judenviertel zum NS-Ghetto lag "antisemitische[r] Wahn, die Energie und der Einfallsreichtum der beflissenen Diener des NS-Regimes, denen man einen grenzenlosen Handlungsspielraum überließ", zugrunde (174), nicht hingegen ein zuvor feststehender Plan, der vom Ghetto zwangsläufig zur "Endlösung" führte.
Diese letzte Schlussfolgerung ist insofern nicht überraschend, als eine strikt "intentionalistische" Position, welche die Ermordung der europäischen Juden mit einer von Beginn an auf dieses Ziel hin intendierten Politik erklärt, in der Forschung inzwischen als widerlegt gilt. Unabhängig davon jedoch ist zu betonen, dass Michman das heute (auch in der NS-Forschung) vorherrschende Bild vom Ghetto durch eine empirisch fundierte und zugleich kulturwissenschaftlich inspirierte Untersuchung der NS-Ghettos ersetzt - und dass er ein meisterhaftes Buch geschrieben hat.
Anmerkung:
[1]: Dan Michman: The Emergence of Jewish Ghettos during the Holocaust, Cambridge / New York 2011.
Karin Orth