Matthias Uhl / Thomas Pruschwitz / Jean-Luc Leleu u.a. (Hgg.): Die Organisation des Terrors. Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945. Hg. im Auftrag des Deutschen Historischen Instituts Moskau, München / Zürich: Piper Verlag 2020, 1147 S., ISBN 978-3-492-05896-4, EUR 42,00
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Ein Hauptwerk über Heinrich Himmler und den Holocaust legte das Forscherteam um Matthias Uhl vom Deutschen Historischen Institut Moskau vor. Dieses, Himmlers Dienstkalender von 1943 bis zum 14. März 1945 bergende und einbettende Buch, schließt den Kreis zu seinem Vorläufer 1941-1942 [1]. Seither erlangen Forscher tiefere Einblicke in das System des Nationalsozialismus und dessen Leitung, wo Adolf Hitler agierte und Eskalationen in der Schoah ausgelöst hat. Die Idee, dass "voll überzeugte Nazis" ohne diesen Diktator als Perpetuum wirkten, rückt weiter ins Abseits. Das "System Hitler" lief allein durch ihn.
Hitler wirkte nicht stets eng mit Himmler, gab Luftwaffenchef Hermann Göring, Außenminister Joachim von Ribbentrop und seinem Kanzlei-Leiter Philipp Bouhler - Euthanasie Aktion T4 - oder Regionalleitern Aufträge wie Odilo Globocnik in der "Aktion Reinhardt" zur Vernichtung von Juden im besetzten Polen und Arthur Seyß-Inquart als Reichskommissar für die besetzten Niederlande. Jedoch stieg Himmler als der Reichsführer SS, Chef der deutschen Polizei sowie Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums im Weltkrieg zur treibenden Kraft in der Schoah auf, über den Hitler viel laufen ließ. Beide trafen sich im Schnitt siebenmal monatlich und griffen 1943 bei "V2-Wunderwaffen" aus (353, 502).
Vergleicht man Dienstkalender 1941-1942 und 1943-1945, so birgt das zweite Buch nichteuropäische Nationalisten und Islamisten von Mittelost über Iran bis Indien im Index: der Inder Subhas Chandra Bose 2, der Großmufti Amin al-Husaini 17, die Khanjar SS-Division 26-mal relativ zu Adolf Eichmann 6, Seyss-Inquart 15 und Gottlob Berger 300-mal. Nun greife ich einige Grundlagen im Licht von Mittelost heraus.
Dies betraf die Kooperation mit nichteuropäischen Nationalisten und Islamisten wie Iraks ex-Premier Ali al-Kailani und Jerusalems Großmufti Amin al-Husaini. Nach ihrem al-Farhud-Pogrom Mitte 1941 in Irak gegen die dortigen Juden, fragten sie sogleich einen Empfang bei Hitler an. Dieser bejahte das - und sie flohen auf getrennten Wegen nach Berlin. Hitler empfing jeden extra und schuf die Basis ihrer vereinten Aktion. Indes er al-Husaini klar sagte, Juden in Europa, Mittelost und global vernichten zu wollen, einigte er sich mit al-Kailani auf den Kampf bis zum Endsieg. In Irak und Palästina lebten große Juden-Gruppen.
Indes Hitler den Großmufti zum Hauptpartner erhob, band er auch al-Kailani ein, Araber im Wüstenkrieg auszubilden. Beide Araber stritten um ihre Führerschaft, doch bevorzugte Hitler den Mufti und sein Achsenpartner Benito Mussolini folgte ihm. Hitler sah ihn als Repräsentanten von Muslimen nicht nur in Mandats-Palästina, sondern einer "großsyrischen Ländergruppe", wohl den möglichen Kalifen, indes al-Kailani zwar die al-Qadiriyya Bruderschaft führte, aber nur für Irak stand. Mussolini sicherte dem Mufti kurz vor dessen Treffen mit Hitler Ende 1941 viel zu: Juden gehörten nicht zu Italien und Europa, Araber seien reif für ihre Selbstregierung und Unabhängigkeit, in Palästina wären Zionismus und Judenheim illegitim, Rom liefere Arabern alles Nötige im Kampf sowie Waffen; und al-Kailani sei auch willkommen.
In al-Husainis Entwurf einer Arabien-Erklärung der Achse Anfang 1941 lautete Punkt 7 ein Judenheim in Palästina sei illegal. Die Achse spreche Arabern das Recht zu, die Frage ihrer jüdischen Bevölkerungsteile national-arabisch in der gleichen Weise zu lösen, wie sie bei ihnen gelöst worden ist. Das bedeute auch, keine jüdische Einwanderung sei mehr nach Arabien erlaubt. Am 28. April 1942 richteten beide Araber dazu ihren Geheimbrief an die Außenminister in Berlin und Rom: Kampf bis zum Endsieg gegen Briten, Ja zur Union und Unabhängigkeit der Araber sowie die Beseitigung des Judenheims. Letzteres war ein Code und meinte die Juden dortselbst, nicht etwa Häuser und Infrastruktur. Das war ein auf Palästina und Irak abzielender Genozid-Pakt als vierseitiger Briefaustausch, den die Achse noch bis 15. Mai bestätigt hat.
Dazu ragen in Himmlers Dienstkalender fünf Themen hervor - I: Rekrutierung von Freiwilligen in die Waffen-SS wie die Khanjar SS-Division 1943 (197, 249) und in Armee-Einheiten (vier Ostlegionen mit Muslimen wie Nordkaukasien, Aserbaidschan, Turkestaner und Wolgatataren, 718) oder islamische Armeeverbände aus dem besetzten Frankreich (355) sowie Boses Indische Legion der Waffen-SS (161); II: Judenverfolgung auch im von Italien besetzten Frankreich Ende März 1943 (210); III: Training von Truppen Imamen und Mullahs; IV: Ausbildung von Fallschirmspringern der Araber in Stoßtrupps (908) für Palästina und Irak, die unter Hans-Joachim Weise, seit 1937 al-Husainis SS-Liaison, in Den Haags Sabotageschule des SS-Sicherheitsdienstes ausgebildet wurden und die der Mufti dort Ende August 1943 besuchte; IV: Himmlers Jahrestreffen samt seiner Führung mit al-Husaini am 4. Juli 1943 und am 8. Mai 1944 in dessen Feldkommandostellen Hochwald und Bergwald (344, 718-719). Dort traf al-Husaini stets ebenso den Berliner SS-Hauptamtschef Gottlob Berger als den für Rekrutierung von ausländischen Truppen Zuständigen (361); V: ideologische Parallelen zwischen Nationalsozialismus und Islamismus.
Al-Husaini warb Muslime in die Waffen-SS bis Mitte April 1943 in Zagreb und Umgebung, darunter in Sarajevo. Er hielt oft rege Kontakte zu einem Dutzend führenden Nazis. Gern machte er sie auf seine übersetzten Kerntexte aufmerksam. Dabei erhielt Himmler von Berger die Translation zweier Briefe, die der Mufti an Außenminister Ribbentrop anlässlich des Geburtstages des Propheten schrieb (222). Auf dem Weg bekam Himmler al-Husainis Schreiben an von Ribbentrop mit der Bitte um Anerkennung der Unabhängigkeit Syriens sowie der Einigungsbestrebung der Araber durch die Achse. Als Himmler selbst Anfang Mai nach Zagreb flog, wurden die noch in Kroatien lebenden Juden inhaftiert und dann 500 bis 600 nach Auschwitz deportiert, wo die meisten kurz nach ihrer Ankunft ermordet worden sind (263).
Muslime jener Truppen wurden auf Hitler und Staatsführer Ante Pavelić vereidigt (371). Ohnehin sah Himmler viele "Anknüpfungspunkte zwischen der NS-Ideologie und dem Islam", etwa dieselben Feinde und einen beiderseitigen Expansionsdrang, um Rekruten zu mobilisieren. Nach Schätzungen meldeten sich in Kroatien 20-30.000 Muslime in die SS-Einheiten. Himmler regte noch an, zu erkunden, durch welche Koranstellen Muslime meinten, Hitler sei darin vorausgesagt worden. Nachdem Himmler das SS-Ahnenerbe und den Großmufti befragte, kam Ende 1943 ein arabisches Flugblatt heraus, das verteilt und Hitler in Isa imaginiert wurde, der im Kampf am Weltende einen Judenkönig besiegte (274-275).
Weniger al-Kailani, mehr der Großmufti erhob sich zum Ratgeber in Islamfragen, so in Mittelost, Europa und zum Sowjetreich. Berger fragte, was der Islam zur Verpflegung von Soldaten in der Waffen-SS sage? Die Bosniaken-Division wie Wehrmachtangehörige zu verpflegen, nur ohne Alkohol und Schweinefleisch (374). All das lief im Mordwesen in der Schoah, wo Himmlers Befehle "blind, bedingungslos und ohne Verzögerung" auszuführen wären (403). Laut Hitler sei es das Beste, was er hinterlasse, die SS (432). Fanatischer Glaube an die rassistisch-kriminellen Mordaktionen, lässt sich in Himmlers Kalender bis zum 12. März 1945 nachweisen, als er befahl, jede weitere Tötung von Juden einzustellen, die er als Pfand in Alliierten-Verhandlungen sah (1058). Das wurde nur teilweise getan, zumal die Todesmärsche liefen.
Der Dienstkalender versetzt Forscher in die Lage, von Nazi-Seite her deren Netzwerke zu rekonstruieren und wozu sie Dritte wie al-Kailani und Bose benutzten. Al-Husaini zeigte sich lebenslänglich von Himmler beeindruckt, entfaltete seine parallele Ideologie und setzte diese bis 1974 um. In Damaszener Memoiren weist er zudem seine Nähe zu Hitler aus, wobei der Dienstkalender noch unbekannte Termine birgt, die zu weiteren Entdeckungen führen. Matthias Uhl und Team gaben der Forschung global höchst wertvolle Impulse, zumal trotz solcher Einsichten in die Schoah der Judenhass weiter nicht nur in Europa ansteigt.
Anmerkung:
[1] "Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42," Hrsg. Peter Witte, Michael Wildt, Martina Voigt, Dieter Pohl, Peter Klein, Christian Gerlach, Christoph Dieckmann and Andrej Angrick, Hamburg: Hans Christians Verlag, 1999.
Wolfgang G. Schwanitz