Antonio Varsori / Guia Migani (eds.): Europe in the International Arena during the 1970s. Entering a Different World (= Euroclio; No. 58), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2011, 387 S., ISBN 978-90-5201-689-4, EUR 48,70
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Die 1970er Jahre werden in der Geschichte Westeuropas und Nordamerikas, aber gerade auch in der Geschichte der europäischen Integration, gerne als ein Jahrzehnt der Krisen, Brüche, des verhängnisvollen Stillstandes und der Stagnation bezeichnet. Der Politikwissenschaftler und führende italienische Integrationshistoriker Antonio Varsori (Padua), einer der beiden Mitherausgeber des vorliegenden Bandes, setzt in seinem thesenstarken Überblickskapitel "The European Construction in the 1970s. The Great Divide" der zeitgenössischen Krisenrhetorik (wie sie sich beispielsweise in Leo Tindemans "Report on European Union" von 1975 findet, aber wie sie auch vielfach in die Forschung übernommen wurde) eine dezidiert andere, optimistischere Sichtweise entgegen: Er sieht die 1970er Jahre als ein für die Konstruktion Europas revolutionäres Jahrzehnt, in dem wichtige Weichen für die heutige EU gestellt wurden. Eine neue "zweite Phase" der Integration bzw. der Konstruktion Europas habe begonnen. Diese sei durch die erste Erweiterung, wachsenden Staatsinterventionismus aufgrund der Implementierung einer sozialpolitischen Agenda der EG sowie durch eine veränderte, selbstbewusstere Rolle Europas in der Welt charakterisiert gewesen.
Diese zweite Phase der Integration charakterisiert Varsori als "sozialdemokratisch geprägt" (36: "social-democratic or christian-social outlook"; im Unterschied zur konservativ-katholisch Gründungsphase der Generation um Adenauer, de Gasperi usw.). Varsoris These der sozialdemokratischen, d.h. von wohlfahrtsstaatlichen und staatsinterventionistischen Ideen geprägten zweiten Phase der 1970er Jahre wird nicht von allen, aber doch der überwiegenden Mehrheit der Beiträge des Bandes gestützt. Dieser stellt die beachtliche Summe eines großen, vom italienischen Universitäts- und Wissenschaftsministerium geförderten Projektes dar, das über mehrere Jahre an den Universitäten Florenz, Padua, Perugia und Udine durchgeführt wurde. Mehrere Autoren und Autorinnen gehören dem Schülerkreis von Varsori an. Nur wenige rütteln am Grundkonsens der sozialdemokratischen 1970er Jahre der EG, darunter Mark Gilbert, der die Auswirkungen des britischen Beitritts auf den Integrationsprozess relativiert. Indes ist dies nicht allein der repräsentative Abschlussbericht eines Sonderforschungsbereichs, sondern ein Band, der für die Integrationsgeschichte der 1970er Jahre Pflöcke einschlägt und der als ein Referenzpunkt für künftige Forschungen Gültigkeit haben dürfte. Da die Mehrheit der Beiträge in englischer (einige wenige in französischer) Sprache abgedruckt wurden, werden die Ergebnisse dieses signifikanten italienischen Projekts für internationale Forschung zugänglich gemacht.
Der Band gliedert sich in fünf Großkapitel, die nach dem Integrationsprozess insgesamt, der Rolle Europas zwischen den Supermächten und im transatlantischen Kontext, Europas Verhältnis zur "Dritten Welt", den Auswirkungen der neuen sozialen Bewegungen sowie nach der demokratischen Transition in Südeuropa fragen (mit der Perspektive der zweiten und dritten Erweiterung, aber auch der Krise Italiens in den 1970er Jahren angesichts der Herausforderung des "Historischen Kompromisses"). Éric Bussière spricht von einem integrationspolitischen Paradigmenwechsel (54) aufgrund der Reaktion der EG-Staaten auf den Globalisierungsdruck angesichts der währungspolitischen Turbulenzen im Gefolge des "Nixon-Schocks" und des Aufstieges der asiatischen Konkurrenz. Dies habe zur Etablierung der Regionalpolitik geführt, aber auch neue Initiativen in Hinblick auf die Wirtschafts- und Währungsunion zur Folge gehabt. Die transatlantischen Verwicklungen bei der Suche nach einer neuen Weltwährungsordnung jenseits von Bretton Woods sind Gegenstand des Beitrages von Duccio Basosi, während eine andere Studie den technologiepolitischen Initiativen angesichts der amerikanischen und asiatischen Herausforderung gewidmet ist, die jedoch die Abhängigkeit und Verflechtung Europas mit dem großen amerikanischen Bruder und daher die Begrenztheit einer selbstständigen forschungspolitischen Agenda aufzeigten (so David Burigana).
Von einer Krise wollen auch Silvio Pons und Federico Romero nicht sprechen ("What crisis?", 88). Sie fragen in ihrem Leitaufsatz zum zweiten Teil des Sammelbandes nach den Auswirkungen der Transformation der US-Hegemonie auf das europäische Gemeinschaftsbewusstsein. Überhaupt unterstreichen verschiedene Beiträge, dass sich trotz des gewachsenen Selbstbewusstseins der Europäer in den 1970er Jahren und auch der wachsenden Macht der supranationalen Institutionen sowie einer verstärkten Betonung intergouvernementaler Kooperationen der europäische Kontext in dieser Phase ungeachtet der wachsenden Emanzipation von den USA nicht ohne die transatlantischen Zusammenhänge erschließt. Das gilt nicht nur für währungspolitische Fragen, sondern auch für das zunehmend komplexe Ost-West-Verhältnis, wenn z.B. Winfried Loth auf die Dialektik zwischen Ostpolitik, Détente und europäischer Integration verweist, Vladislav Zubok die wirtschafts- und handelspolitische Penetration des Ostblock als zentrale Ursache des Zerfalls der sowjetischen Hegemonie identifiziert oder Valentine Lomellini (im "Bewegungsteil" des Bandes) den Dialog zwischen der italienischen Linken und den osteuropäischen Dissidenten in den Blickpunkt rückt. Das gewachsene Gewicht der EG wird trotz der atlantischen Konkurrenzen vor allem sichtbar im Verhältnis zur "Dritten Welt" (Luciano Tosi), mit dem Lomé-Abkommen 1975, aber auch einer entwicklungspolitischen Strategie für das Mittelmeer (Guia Migani). Auch die Reaktion auf den Ölpreisschock sei nicht besonders uneinheitlich gewesen wie Guiliano Garavini und Francesco Petrini gegen den Tenor der Forschung argumentieren ("was not [...] particularly disunited", 230).
Weniger leicht greifbar als die Formulierung bestimmter Strategien und Absichtserklärungen der Staats- und Regierungschefs ist die Frage, wie sehr die Konstruktion einer europäischen Identität in den 1970er Jahren vorangekommen sei. Dazu trug die erfolgreiche demokratische Transition auf der Südflanke bei, wobei hier erneut die USA ein zentraler Akteur waren (so Mario Del Pero generell bzw. Eirini Karamouzi zu Griechenland), aber auch die Bundesrepublik ihr gewachsenes Gewicht in die Waage warf. So wird die Bonner Nervosität angesichts des in Italien drohenden "Historischen Kompromisses" mit der Kommunistischen Partei von Giovanni Bernardini aufgearbeitet (die reichen Quellenzitate aus den "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland" (AAPD) relativieren wunderbar die heutige Krisenperzeption Italiens), und auch die konstruktive Rolle Bonns in der portugiesischen Nelkenrevolution bekommt einen eigenen Beitrag (Antonio Muñoz Sánchez). Philippe Chassaigne betont unter Bezug auf die Kopenhagener Erklärung von 1973, dass mit der Reaktion auf die weltwirtschaftlichen und währungspolitischen Verwerfungen sich ein europäischer Gipfel hier konkret zur Frage der europäischen Identität äußerte, ähnlich wie der Pariser Gipfel 1972 mit der Erklärung der sozialpolitischen Ziele der EG, zu den Menschenrechten und zu umweltpolitischen Fragen bewusste Konstruktionsarbeit an einer europäischen Identität leistete. Simone Paoli sieht dies als Ausdruck des sozialdemokratischen Europa der 1970er Jahre, personell inkarniert von EG-Kommissionspräsident Mansholt, dem ersten Sozialdemokraten in diesem Amt. Wie sehr die Impulse von "1968" und der Protestkultur der neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre den Integrationsprozess beeinflussten, was als These ja auch einleitend Varsori betont, wäre indes durch vertiefte Forschung noch zu belegen.
In der Summe lässt sich dieser gelungene und für ein Sammelwerk in sich bemerkenswert konsistente Band - trotz der unvermeidlichen Lücken, weil z.B. ein Beitrag zu den Gipfeln und auch zur G7 fehlt; auch einer zur Agrarpolitik - als wichtiger Ausgangspunkt für weitere Forschungen zur Geschichte des europäischen Projekts in den 1970er Jahren empfehlen. Anregend sind die generellen Überlegungen zu den 1970er Jahren als zweiter Phase der Integration, mit der gewachsenen Rolle der intergouvernementalen Komponente und der regional- und sozialpolitischen Säulen (was wesentlich auch mit der Rolle des Südens zusammen hängt) sowie einem sich verstärkenden globalen Ausgreifen der EG. Zugleich wird ein signifikanter Beitrag der italienischen Forschung einem internationalen Publikum zugänglich gemacht und so die ohnehin starke Europäisierung der Historiographie in einem kritischen Teilbereich der jüngeren Zeitgeschichte weiter vorangetrieben. Daher gehört der Band in jede Bibliothek.
Philipp Gassert