Julia Eichenberg: Kämpfen für Frieden und Fürsorge. Polnische Veteranen des Ersten Weltkriegs und ihre internationalen Kontakte, 1918-1939 (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 27), München: Oldenbourg 2011, VIII + 259 S., ISBN 978-3-486-70457-0, EUR 39,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" an der Universität Tübingen hat eine weitere Publikation hervorgebracht: Julia Eichenberg behandelt in ihrer 2008 vorgelegten Dissertation die polnischen Veteranen des Ersten Weltkriegs und seiner Folgekonflikte. Diese gesellschaftliche Gruppe konnte wie wohl keine andere für sich in Anspruch nehmen, den Krieg nicht nur im Sinne aller erdenklichen Definitionen des Begriffs "erfahren" zu haben; sie war überdies imstande, diese Erfahrung zu einem Instrument gezielter Sozialpolitik und Lobbyarbeit zu schmieden und auf diesem Wege sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne des Wortes (bescheidenes) Kapital aus ihr zu schlagen. Eichenberg analysiert diesen Vorgang nicht nur in dem nationalstaatlichen Rahmen, den die Zweite Polnische Republik ab 1918 erst zimmern musste, sondern sie erhellt zugleich auch seine Verflechtungen mit dem internationalen Umfeld, das Veteranenverbände aus anderen Staaten, aber auch der neu gegründete Völkerbund und die International Labour Organization in den 1920er- und 1930er-Jahren schufen. Die Arbeit positioniert sich damit an der Schnittstelle zwischen Ideen-, Sozial- und Kulturgeschichte und ist zugleich der transnationalen Geschichtsschreibung verpflichtet.
Eichenberg hat ihre Darstellung im Wesentlichen dreigeteilt: Bevor sie sich dem doppelten Engagement der Veteranen für staatliche Fürsorge auf der einen und dem Erhalt des prekären Friedens in Europa auf der anderen Seite zuwendet, behandelt sie zunächst die diskursive Konstruktion dessen, was im polnischen Zusammenhang unter "Veteranen" zu verstehen sei: Dies ist angesichts der vielfältigen polnischen Verwicklungen in das Weltkriegsgeschehen beziehungsweise in die nachfolgenden Grenzkonflikte recht komplex und nimmt daher relativ viel Raum in dieser wohltuend bündigen Dissertation ein. Eine des Polnischen nicht mächtige Leserschaft dürfte die hier gebotene Zusammenfassung polnischen militärischen Engagements zwischen 1914 und 1921 besonders zu schätzen wissen.
Die aus alledem abgeleitete Frage, welche ehemaligen Kämpfer sich mit Fug und Recht als "Veteranen" bezeichnen und daraus entsprechende Versorgungsansprüche gegenüber dem polnischen Staat ableiten konnten, war deshalb schwierig, weil englische, französische oder deutsche Kombattanten ihr jeweiliges Opfer in der öffentlichen Wahrnehmung immer für eine bestimmte, zweifelsfrei zu identifizierende nationale Sache erbracht hatten, polnische Kriegsteilnehmer dies hingegen meist nicht ohne weiteres von sich behaupten konnten: Die Mehrzahl von ihnen hatte 1914 als Bürger und Untertanen des Russischen Reiches, der Donaumonarchie und des Deutschen Reiches zunächst einmal ihre Wehrpflicht erfüllen müssen. Soweit sie dieser Pflicht nachgekommen waren (was in aller Regel offenbar der Fall war), setzte sie gerade dies nach dem Krieg in Polen unter einigen Rechtfertigungsdruck. Dieser entstand nicht zuletzt durch das Gegenexempel von Gruppen wie den seit 1914 in Galizien aktiven, von Józef Piłsudski befehligten Legionären oder der 1917 aufgestellten Polnischen Armee in Frankreich: Diese konnten nämlich auf ihre frühe symbolische Abgrenzung von beziehungsweise ihre aktive Gegnerschaft zu den Mittelmächten verweisen und selbstbewusst vortragen, "von Anfang an" echte Vorkämpfer der Unabhängigkeit Polens gewesen zu sein. Dass auch sie in die Befehlsstrukturen fremder Armee eingebunden waren, spielte im öffentlichen Diskurs der 1920er- und 1930er-Jahre praktisch keine Rolle. Vor diesem Hintergrund waren völlig "unproblematische" Veteranen erst diejenigen Soldaten, die zwischen 1918 und 1921 in den Grenzkriegen kämpften. Diese Konflikte, so Eichenberg treffend und mit einem dem digitalen Zeitalter angemessenen Bild, hätten in Polen die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg "überschrieben" (52) und diesen in Erinnerungskultur und Historiografie verdrängt, obwohl er doch eigentlich die Unabhängigkeit gebracht habe.
Davon ausgehend, verfolgt Eichenberg die Entstehung und Entwicklung der auf westeuropäische Diskurse und Modelle Bezug nehmenden polnischen Veteranenbewegung bis hin zu deren Vernetzung mit den beiden zentralen, auf französische Initiativen hin gegründeten internationalen Verbänden, der Fédération Interalliée des Anciens Combattants (FIDAC) und der stärker der Idee einer Versöhnung auch mit dem früheren Feind anhängenden Conférence Internationale des Associations des Mutilés et Anciens Combattants (CIAMAC). Sie betont die zumindest anfangs große Bedeutung persönlicher internationaler Kontakte zwischen den Protagonisten der Veteranenbewegung.
Eichenberg arbeitet sich systematisch von innen nach außen vor, das heißt von der innerpolnischen Veteranenfrage hin zu ihrer gesamteuropäischen beziehungsweise internationalen Dimension, und beobachtet dabei das "Wechselspiel zwischen dem nationalen Narrativ der Kriegserinnerung und der Ausbildung einer Identität als Weltkriegsveteran" (1f.). Das Identitätselement "Weltkriegskämpfer" trat neben nationale, ethnische, religiöse und dergleichen Zuschreibungen, und beide Organisationen suchten dies durch spezifische äußere Manifestationen (Mitgliedsausweise, Flaggen, Zeremonien) zu befördern. Das Leitmotiv der Interdependenz von nationalem, innerpolnischem Diskurs und entsprechenden Vorgängen außerhalb der polnischen Grenzen dominiert auch die beiden Kapitel zur Versorgung der Veteranen und zu deren Einsatz gegen einen neuen Krieg. Dabei bleibt insgesamt trotz der von Eichenberg nachgewiesenen prominenten polnischen Beteiligung an internationalen Verbandsaktivitäten ein wenig der Eindruck haften, dass der Ideentransfer tendenziell eher vom Ausland nach Polen erfolgt sei als umgekehrt. Der Umstand, dass im Grunde alle Strukturen erst noch aufgebaut werden mussten und die verfügbaren finanziellen Mittel sehr limitiert waren, dürfte dies erklären; selbst der formelle Beitritt der ersten polnischen Veteranenverbände zur FIDAC erfolgte erst um die Mitte der 1920er-Jahre.
Die beiden anderen Säulen, auf denen Eichenbergs Arbeit ruht, sind im Vergleich zur ersten etwas geringeren Umfangs, aber dessen ungeachtet hochinteressante Detailstudien dazu, wie die organisierten Veteranen auf die Sozialpolitik des polnischen Staates Einfluss nahmen und wie sie sich international bemühten, unter Verweis auf die eigene Kriegserfahrung den Frieden in Europa zu erhalten. Im Sinne ihres transnationalen Ansatzes kann die Autorin differenziert zeigen, wie sich politische Unterstützung für eine staatliche Unterstützung der Veteranen mobilisieren ließ, indem in Parlament und Öffentlichkeit ausländische Vergleichsmaßstäbe herangezogen und darüber Druck ausgeübt wurde.
Schließlich tritt Eichenberg mit ihren Ausführungen zu den pazifistischen Bestrebungen der Veteranen der verbreiteten Wahrnehmung entgegen, der Weltkrieg habe zwangsläufig alle Beteiligten brutalisiert und damit den nächsten Krieg gleichsam vorprogrammiert. Ihre Analyse gegenläufiger Strömungen, die freilich in Polen wie in anderen europäischen Ländern der Zwischenkriegszeit angesichts neuer internationaler Spannungen und der damit einhergehenden Aufrüstung bald auf wachsenden Widerstand stieß, ist schon deshalb bemerkenswert, weil pazifistische Ideen im polnischen Kontext bislang eher als Randphänomen wahrgenommen worden sind.
Es gibt wenig auszusetzen an dieser Arbeit, die mit ihrem gut gewählten Thema anhand eines überschaubaren, aber verstreuten Quellenfundus einen wirklich neuen Aspekt der Zwischenkriegsgeschichte Polens aufgetan hat und ihren methodischen Ansatz derart überzeugend verfolgt.
Pascal Trees