Benjamin Conrad: Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918-1923 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa; Bd. 84), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, 382 S., ISBN 978-3-515-10908-6, EUR 62,00
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Gernot Briesewitz: Raum und Nation in der polnischen Westforschung 1918-1948. Wissenschaftsdiskurse, Raumdeutungen und geopolitische Visionen im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, Osnabrück: fibre Verlag 2014
Benjamin Conrad / Lisa Bicknell (Hgg.): Stadtgeschichten. Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku, Bielefeld: transcript 2016
Johannes Frackowiak (Hg.): Nationalistische Politik und Ressentiments. Deutsche und Polen von 1871 bis zur Gegenwart, Göttingen: V&R unipress 2013
Benjamin Conrad: Loyalitäten, Identitäten und Interessen. Deutsche Parlamentarier im Lettland und Polen der Zwischenkriegszeit, Göttingen: V&R unipress 2016
Die gewählte Thematik ist von der historischen Forschung sehr gut bearbeitet. In Polen füllt der Zeitraum der Entstehung und Konstituierung der Zweiten Polnischen Republik ganze Bibliotheken und beleuchtet nationale und internationale Aspekte der Staatsgründung und seiner territorialen Fixierung aus den verschiedensten Perspektiven. In der deutschsprachigen Literatur ist er zentraler Bestandteil des gut bestellten Forschungsfeldes zur Geschichte Polens und der deutsch-polnischen Beziehungen, aber natürlich auch ein wichtiger Punkt in den Untersuchungen zum Komplex Versailler Vertrag und zur deutschen Geschichte nach dem Ersten Weltkrieg sowie zu den internationalen Beziehungen.
Die Arbeit ist logisch gegliedert und macht die Hauptaspekte der Grenzfestlegungen des neuen polnischen Staates leicht zugänglich. Nachdem Benjamin Conrad in der Einleitung mit der Teilungssituation Polens und Staatsvorstellungen maßgeblicher politischer Akteure bekannt gemacht hat, schildert er die Behandlung der polnischen Frage bei den Kriegsallianzen und Russland. Als Schwebezustand bezeichnet er den Zeitraum der bewaffneten Auseinandersetzungen um die Grenzen zwischen Staatsgründung und Friedensverhandlungen in Versailles, um dann in drei Kapiteln die Grenzfestlegungen zu den Nachbarn zu behandeln. Neben einem umfänglichen Quellen- und Literaturverzeichnis und einem (leider nicht getrennten) Namens- und Ortsregister besitzt das Buch ein Verzeichnis der polnischen Regierungen und einen kommentierten Kartenanhang.
Das Buch nimmt für sich in Anspruch, einen "multiperspektivischen" Zugang zu bieten (11) und sich damit von den "vor allem mikro- und regionalgeschichtlichen Ansätzen" bisheriger Arbeiten zu unterscheiden, die die "Grenzziehungen [...] für Polen [...] eher kleinteilig und nicht als Problem für den wieder erstehenden polnischen Staat insgesamt untersucht" hätten (15). Das sehr informativ gehaltene Buch stellt gewiss die erste monografische deutschsprachige Arbeit zu dem Themenkomplex dar, dass jedoch die Arbeiten, auch monografischen Charakters, zu einzelnen Aspekten der Grenzfestlegungen den Gesamtzusammenhang der territorialen Konstituierung der Zweiten Polnischen Republik nicht berücksichtigt haben sollen, trifft einfach nicht zu. Die umfangreichen Abhandlungen zur Oberschlesienfrage, zu den Abstimmungen sowie zum polnisch-sowjetischen Krieg, um nur einige Themenfelder zu nennen, stellen ihren Gegenstand sehr wohl in den Zusammenhang von nationalen und internationalen Belangen, von Polenpolitik, Ostmitteleuropa und Versailler Vertrag. Sie beschränken sich dabei nicht auf die historischen Abläufe, sondern ordnen diese in Fragen des Völkerrechts und des Selbstbestimmungsrechts von Nationen ein.
Als eine zentrale Aufgabe des Buches beschreibt der Autor die stärkere Berücksichtigung eines Nationalbewusstseins und der Rolle seiner unterschiedlichen Bewertung beim "Grenzbildungsprozess" (14). Er macht dieses Problemfeld vor allem an den beiden "Akteursgruppen" fest, die 1918-1920 "ungewollt" [sie waren sehr wohl gewollt - R. S.] existierten (15). Daran jedoch die Lösung der territorialen Frage zu entwickeln, ist eine heikle Angelegenheit, worauf Conrad hinweist, wenn er deutlich macht (16), dass die national orientierten Positionen Roman Dmowskis und die föderalen Positionen Józef Piłsudskis sich oftmals überlagerten und in der Praxis der territorialen Fixierung des Staates, und darum geht es ja, kaum unterschiedliche Vorstellungen entwickelten. Nicht zuletzt darin bestand das Dilemma des föderalen Projektes des Piłsudski-Lagers. Diese Konvergenz, die sich wesentlich auf der konzeptionellen Schwäche der föderalen Idee und auch dem Unwillen seiner Umsetzung gründete, ist eine wichtige Erkenntnis neuerer Forschungen zur Geschichte Zwischenkriegspolens. Wenn also der Autor am Schluss der Arbeit feststellt, "dass der Ostpolitik Piłsudskis und seiner Anhänger kein sorgfältig ausgearbeitetes und ausgeführtes 'Föderationskonzept' zu Grunde lag" (292), so ist das bereits geistiges Allgemeingut der Forschung. Auch einer als Ergebnis der "angewandten Methoden der 'forschenden Synthese' und des Blicks auf zentrale Akteure [...] in vielerlei Punkten" möglich gewordene "Neubewertung" (291) muss widersprochen werden. Es ist nicht wirklich neu, dass die Polen vor dem Hintergrund des polnisch-sowjetischen Krieges die Abstimmungen in Ostpreußen hintertrieben haben und dass es bei der Abstimmung in Oberschlesien und ihren Ergebnissen nicht mit rechten Dingen zuging, wissen wir seit langem. Aus den als neu apostrophierten Feststellungen dann den Schluss zu ziehen, "den Grenzfestlegungsprozess als Einheit zu betrachten" (291), mag aus der Perspektive der Forschung einleuchten, ein einheitlicher Prozess war er damit noch lange nicht.
Schlussendlich stellt sich die Frage, ob neue Bücher zu alten Themen immer auch einen Erkenntnisgewinn bringen müssen, oder anders gesagt: einem innovativen Anspruch gerecht werden müssen, zumal wenn sie in einer wichtigen Reihe zur Osteuropäischen Geschichte erscheinen. Wenn das so ist, so sind Zweifel an der Sinnhaftigkeit des vorgelegten Buches angebracht. Es werden hier weder neue Quellen erkenntnisgewinnend verwendet noch innovative Fragestellungen verfolgt oder gar andere als die gewohnten Paradigmen angewendet, auch wird die Thematik nicht neu gedacht. Wenn es aber so ist, dass wir auch Bücher brauchen, die komplexe Themen zusammenfassend und anschaulich darstellen und mit einem Apparat bzw. Anhang einen schnellen Zugriff zu wichtigen Problemen historischer Sachverhalte bieten, dann erfüllt das vorliegende Buch seinen Zweck und kommt der Qualität eines Handbuches recht nahe.
Ralph Schattkowsky