Rezension über:

Jochen Böhler / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939-1945 (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 26), Osnabrück: fibre Verlag 2012, 566 S., ISBN 978-3-938400-70-8, EUR 39,80
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Rezension von:
Karin Orth
Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Karin Orth: Rezension von: Jochen Böhler / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939-1945, Osnabrück: fibre Verlag 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 11 [15.11.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/11/24258.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Jochen Böhler / Stephan Lehnstaedt (Hgg.): Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939-1945

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Der vorliegende Sammelband geht auf ein gleichnamiges Symposium des Deutschen Historischen Instituts (DHI) Warschau und des Danziger Museums des Zweiten Weltkriegs zurück, das im November 2009 in Warschau stattfand. Es war dies die bislang letzte Veranstaltung einer Tagungsreihe, die das DHI Warschau mit jeweils einem polnischen Kooperationspartner seit 2002 zu Themen der deutschen und sowjetischen Besatzungsherrschaft in Polen sowie zur Ermordung der europäischen Juden durchgeführt hat. Die Konferenzreihe zielte auch darauf, deutsche und polnische Historikerinnen und Historiker zusammenzubringen, um die bislang meist getrennt diskutierten Forschungsansätze und -ergebnisse gemeinsam zu erörtern. Für die Geschichtsschreibung über Polen im Zweiten Weltkrieg ist ja bezeichnend, dass bis heute zwei nationale Forschungstraditionen existieren, deren jeweilige Resultate im anderen Land nicht oder kaum rezipiert wurden und werden.

Nach Kriegsende stand in Polen die Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Herrschaft über Polen im Zentrum der Historiografie, während dies die deutsche professionelle Historikerzunft (von wenigen Ausnahmen abgesehen) lange Zeit nicht oder kaum interessierte. Das sowjetische Besatzungsregime in Polen hingegen war zunächst weder im Osten noch im Westen ein Thema. Die Forschungsthemen und Erkenntnisinteressen änderten sich mit den politischen Umbrüchen in Osteuropa seit Anfang der 1990er Jahre fundamental; wesentlich trug dazu auch die Öffnung der Archive bei. Nun stand in der polnischen Historiografie die sowjetische Okkupation Polens im Fokus, während sich die deutschen Historiker intensiv mit der nationalsozialistischen Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa und insbesondere mit dem Judenmord beschäftigten. In Anbetracht von Ausmaß und Ungeheuerlichkeit der NS-Verbrechen war die sowjetische Besatzungsherrschaft in Polen in Deutschland kaum ein Thema. Vor diesem Hintergrund ist allein schon die Tatsache, dass die Konferenzreihe stattfand und die dort gehaltenen Vorträge in überarbeiteter Fassung veröffentlicht wurden, als bedeutsam einzuschätzen. Wünschenswert wäre freilich, dass die Bände auch auf Polnisch erscheinen, um der interessierten polnischen Öffentlichkeit die Ergebnisse vorzustellen.

Der hier zu besprechende Sammelband wird von Stephan Lehnstaedt eingeleitet und behandelt vier Themenbereiche: Zunächst geht es um die Formen und Ausprägungen der nationalsozialistischen beziehungsweise sowjetischen Besatzung Polens im Zweiten Weltkrieg und die Frage, ob sich dabei spezifisch nationalsozialistische beziehungsweise sowjetische Herrschaftsmethoden herausbildeten. Zweitens werden Rekrutierung, Sozialstruktur und Terrorpraxis der maßgeblichen Akteursgruppen untersucht, die hier "Neue Eliten" genannt werden. Drittens steht die Ethnisierung des Alltags im Fokus. Gefragt wird nach den Auswirkungen der neu etablierten Herrschaftsformen für die in Polen lebendenden Menschen und nach der Praxis der von den Besatzungseliten ausgeübten Gewalt. Viertens schließlich wird der Widerstand gegen die beiden Okkupationsregime aus polnischer, jüdischer, ukrainischer und litauischer Sicht geschildert. Allen Beiträgen, so Lehnstaedt, sollten drei methodische Perspektiven zugrunde liegen: Es gehe erstens um einen alltagsgeschichtlichen Ansatz, zweitens um die Formen der ausgeübten Gewalt und drittens um einen Vergleich der beiden Besatzungsregime. Das voluminöse Buch umfasst 25 Aufsätze - überwiegend von Nachwuchswissenschaftlern und nur in wenigen Fällen von Nachwuchswissenschaftlerinnen verfasst - und wird durch ein hilfreiches Personen- und Ortsregister abgerundet.

Es kann hier nicht der Ort sein, die stets lesenswerten Beiträge en détail vorzustellen und alle Ergebnisse zu würdigen. Hervorzuheben ist jedoch zum Ersten die Tatsache, dass die Besatzungsregime in Polen überhaupt untersucht werden. Denn hier wurde während des Zweiten Weltkriegs Terror in einem Maße ausgeübt, der bislang in Mitteleuropa unbekannt war und im Massenmord an den europäischen Juden kulminierte. Für die deutsche Leserschaft sind zum Zweiten insbesondere die Beiträge der polnischen Historiker interessant, da über die sowjetische Besatzungspolitik und ihre Akteure hierzulande wenig bekannt ist, über die nationalsozialistische Okkupation hingegen vergleichsweise viel. So beschreibt Anna Zapalec in ihrem Beitrag über die sowjetischen Verwaltungsbeamten in den polnischen Ostgebieten, wie dort innerhalb von weniger als zwei Jahren eine Verwaltungsstruktur nach sowjetischem Muster errichtet wurde. Durch die Schaffung von Kolchosen und Sowchosen und die Forcierung der "Nationalisierung" von Unternehmen und Institutionen veränderten sich die Wirtschaftsstruktur und das gesellschaftliche Leben nachhaltig (153). Als zentrale Akteure, die den Prozess vorantrieben, identifiziert Zapalec Angehörige des Militärs, des Volkskommissariats des Inneren (NKVD) sowie Polit- und Parteifunktionäre. Auf die besondere Bedeutung des NKVD für die Ausübung von Gewalt weist auch Piotr Kołakowski hin, der die NKVD-Funktionäre als "revolutionäre Avantgarde" (155) charakterisiert. NKVD-Sonderheiten, bestehend aus erfahrenen Mitarbeitern des staatlichen Sicherheitsapparats der UdSSR und strikt zentralistisch organisiert, folgten den sowjetischen Truppen unmittelbar nach dem Einmarsch in die polnischen Ostgebiete im September 1939. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, so Kołakowski, die kommunistische Herrschaft zu festigen und jegliche Formen von Widerstand zu bekämpfen (158). Zu ihren Terrorpraktiken gehörten Verhaftungen, Folter, Zwangsaussiedlungen und Mord. Auf welche Weise der NKVD gegen den polnischen Untergrund in den von der Roten Armee besetzten Gebieten vorging, untersucht Rafał Wnuk. Gestützt auf ein engmaschiges Netz von Geheimdienstmitarbeitern konnten die Untergrundgruppen enttarnt und zerschlagen werden (526); zudem wurden zwischen September 1939 und Juni 1941 mehr als 110 000 Polen als "sozial gefährliche Elemente" verhaftet, zum Teil verurteilt, zum Teil ermordet (535 folgende). Am Vorabend des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion war also der "Widerstandsgeist" der Bevölkerung in den sowjetisch besetzten Gebieten Polens bereits stark geschwächt (539). In den Aufsätzen wird jedoch auch deutlich, dass die Repression nicht nur von Militär, NKVD und Parteifunktionären ausging. So zeigt Daniel Boćkowski in seinem Beitrag über die sowjetische Gerichtsbarkeit in den besetzten Ostgebieten, dass auch diese Teil des Besatzungsregimes war und zur Herrschaftssicherung beitrug.

Drittens sind schließlich diejenigen Beiträge hervorzuheben, die explizit vergleichend vorgehen. So zeigen etwa Tarik Cyril Amar und Felix Ackermann am Beispiel der Stadt Lemberg beziehungsweise Grodno Kontinuitäten und signifikante Unterschiede des Alltags unter der doppelten Besatzung.

Die meisten Beiträge konzentrieren sich jedoch entweder auf die sowjetische oder auf die nationalsozialistische Okkupation. Sie schreiben zudem eine klassische Strukturgeschichte: Der "Alltag" im Sinne einer sozialen Praxis (Alf Lüdtke) der sich routinisierenden Gewaltanwendung wird nicht systematisch untersucht - entweder, weil die dafür notwendigen Quellen nicht überliefert sind, vor allem aber, weil erst einmal die grundlegenden Rahmenbedingungen für das Handeln der Akteure rekonstruiert werden (müssen). So bleiben die meisten Verfasser der für sich genommen interessanten Aufsätze nicht nur an der Strukturgeschichte orientiert, sondern sie vergleichen - bis auf wenige Ausnahmen - die beiden Regime auch nicht. Es ist wohl noch zu früh für komparatistische Studien oder gar für eine synthetisierende Gesamtdarstellung der Geschichte Polens zwischen 1939 und 1945 aus alltagsgeschichtlicher Perspektive.

Karin Orth