Wolfgang Schieder: Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce, München: Oldenbourg 2013, 404 S., ISBN 978-3-486-70937-7, EUR 39,80
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Über viele Jahrzehnte, fast ein halbes Jahrhundert mittlerweile, hat Wolfgang Schieder die deutsche Forschung zur Geschichte des italienischen Faschismus und des faschistischen Regimes, der europäischen Faschismen sowie der politischen und ideologischen Beziehungen zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland immer wieder angestoßen und erheblich geprägt. Viele Studierende meiner Generation werden sich, wie ich, daran erinnern, dass die Lektüre seines profunden Faschismus-Artikels im damals so innovativen lexikalischen Unternehmen "Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft" [1] zu den Anfängen ihrer Begegnung mit diesem Themenkomplex gehört hat, und sie werden sich auch erinnern an die Bedeutung seiner Erprobung sozialhistorischer Vergleichsmöglichkeiten [2] und seine streitbaren Verteidigungen der eigenen Perspektiven und Thesen gegen mancherlei Kritik [3]. Nicht wenige Historiker dieser nächsten Generation sind von ihm entweder direkt an seinen Lehrstühlen für Neuere und Neueste Geschichte erst in Trier, dann in Köln auf die von ihm abgesteckten Forschungsfelder geführt worden. [4]
Seit seiner Emeritierung 2000 hat sich Schieder gänzlich auf diese Thematik konzentriert und vor allem die Zeit gefunden, archivalische Grundlagenforschung zu betreiben. Der Ertrag ist wahrlich beachtlich. [5] Gekrönt wird er jetzt mit "Mythos Mussolini". Das Werk ist strikt orientiert an Postulaten einer modernen Kulturgeschichte der Politik, welche in erster Linie an Analysen des Stils von Politik, der Ritualisierung ihrer Präsentation, der jeweils zugrundeliegenden historischen und konkurrierenden aktuellen Modelle interessiert ist und ein neues, vertieftes Verständnis der politischen Inhalte und ihrer Wirksamkeiten zu gewinnen versucht. Forschungsleitend war sodann für Schieder die Ansicht, dass generell die "Audienz" ein wichtiges Instrument der persönlichen Herrschaft des Duce im Ensemble seiner vielschichtigen Handlungsebenen gewesen ist, verbunden nunmehr mit der in langwierigen archivalischen Recherchen erarbeiteten Erkenntnis, dass die Audienzen ausländischer Besucher als "Katalysator" (21) für die internationale und besonders für die deutsche Perzeption des Faschismus gesehen werden müssen.
Der erste, systematisch zugreifende Teil des Buches (11-203) entfaltet diese Erkenntnis in plausibler Weise. Er bietet eine erstmalige Darstellung des gesamten Audienzwesens selbst, der Selbstdarstellungsmethoden Mussolinis, des Weiteren der Erwartungshorizonte und Wahrnehmungsweisen deutscher Besucher, sortiert nach ihren für die Gewährung einer Audienz wohl jeweils ausschlaggebenden Leistungen und Berufen. Mehr als 300 Einzelaudienzen reichsdeutscher Besucher hat Schieder für die Jahre 1923 bis 1943 anhand der Listen der zuständigen Institutionen nachweisen können (zu den dabei zu bewältigenden Problemen vgl. 358f.), 86 Audienzen sind von 52 der vom Duce Empfangenen mehr oder minder zeitnah, mehr oder minder ausführlich beschrieben worden. In einem eigenen Kapitel werden hier die beiden publizistisch folgenreichsten Begegnungen mit dem Duce untersucht: die Emil Ludwigs, der zwischen 1929 und 1932 sechsmal empfangen wurde und dann seine häufig zitierten "Gespräche" mit Mussolini veröffentlicht hat [6], und diejenigen der nahezu vergessenen Louise Diel, die zwischen 1934 und 1939 zwölfmal in Privataudienz empfangen wurde, Verfasserin zahlreicher Schriften über das faschistische Italien und seinen Diktator. [7]
Der zweite Teil (207-344) birgt eine Edition von 32 ausgewählten Berichten über persönliche Begegnungen mit dem italienischen Diktator zwischen Ende 1927 und Herbst 1942 mit besonderer Gewichtung der Jahre von 1929/30 bis 1936, teils vollständig wiedergegeben, überwiegend aber notwendigerweise gekürzt, einige davon aus Archiven und privaten Nachlässen erstmals publiziert.
Der dritte Teil (345-377) bietet chronologische Auflistungen erstens der 86 nachgewiesenen Audienzberichte mit genauer Angabe der Fundstelle, zweitens sämtlicher Audienzen deutscher Besucher mit dem jeweiligen archivalischen, nur sehr selten mit einem sonstigen Beleg. Beide Listen erlauben Einordnungen der im zweiten Teil vorgestellten Audienzen, genauer: der Besucherberichte über sie. Nicht zuletzt aber verdeutlicht ihre Durchsicht die Berechtigung von Schieders zeitlicher Schwerpunktsetzung: Es waren dies die "Jahre des Konsenses" [8], die Jahre nach der Etablierung der kaum mehr beschränkten Diktatur und vor der beginnenden Verstrickung in die Umarmungen des nationalsozialistischen Deutschlands. Es waren die Jahre, in denen der Duce keineswegs bereit gewesen ist, herandrängende nationalsozialistische Funktionsträger besonders zu bevorzugen oder gar ihnen missliebige Deutsche nicht (mehr) zu empfangen. Unter denen waren ja gerade jene, die an der liberalparlamentarischen Republik von Weimar verzweifelt waren, sofern sie sie nicht stets abgelehnt hatten, die aber in Mussolini und seinem Faschismus eine Alternative zum Nationalsozialismus zu finden hofften.
Schieder, der im Einklang mit vielen Faschismusforschern, aber im Gegensatz zu anderen von einer Wesensverwandtschaft von Faschismus und Nationalsozialismus, von faschistischem und nationalsozialistischem Regime ausgeht und die Verschiedenheiten für letztlich vernachlässigbar hält, sieht diese Besucher als Irrende in einem subtilen Ineinander von opportunen Selbstverharmlosungen Mussolinis und Wunschvorstellungen solcher Besucher aus dem Deutschen Reich. Er präsentiert en détail beachtenswerte Informationen, die in Zukunft dazu führen sollten, das von Emil Ludwig gezeichnete Bild des Duce und seines Faschismus nicht mehr leichtfertig als Beweisstück für eine wesentliche Verschiedenartigkeit von Faschismus und Nationalsozialismus zu verwenden. Aber vermutlich reicht das nicht aus, um das Faktum solcher zeitgenössischer Ansichten beiseite zu räumen; es wird wohl in der Debatte um "den" Faschismus von den Verfechtern anderer Perspektiven zwar mit größerer Vorsicht, aber doch in seinem Kern behauptet werden.
Wolfgang Schieders "Mythos Mussolini" ist jedenfalls eine neue Wegmarke auf den weiten Linien der Erforschung der Diktatur Mussolinis und der deutschen Begegnung mit dem faschistischen Italien vor und nach dem Wendepunkt des 30. Januar 1933. [9] Dem liegen neben der archivalischen Leistung ebenso intensive Literatursichtungen zugrunde, welche in so weiten Zusammenhängen selbstverständlich nie allerfassend gelingen können. So hätte die Berücksichtigung des Forschungsbeitrags von Jens Fleming eine etwas genauere Bestimmung der Audienz von Georg Mehlis (108f.) ermöglicht [10], die Berücksichtigung mancher Beiträge in einem großen italienischen Tagungsband die überaus interessanten Ausführungen über Werner von der Schulenburg (144-150) um einige Fassetten bereichern können [11]. Aber das sind lediglich Quisquilien.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Schieder: Faschismus, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft, Bd. II, hg. von Claus Dieter Kernig, Freiburg 1968, Sp. 438-477.
[2] Wolfgang Schieder (Hg.): Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg 1976.
[3] So in Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte, veröffentlicht unter den Titeln: Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse, München 1980; Der italienische Faschismus. Probleme und Forschungstendenzen, München 1983.
[4] Genannt sei hier Lutz Klinkhammer: Zwischen Bündnis und Besatzung. Das nationalsozialistische Deutschland und die Republik von Salò 1943-1945, Tübingen 1993.
[5] Vgl. etwa Wolfgang Schieder: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008; ders.: Der italienische Faschismus 1919-1945, München 2010.
[6] Emil Ludwig: Mussolinis Gespräche mit Emil Ludwig, Wien u. a. 1932. Fast zeitgleich auch in italienischer Sprache: Colloqui con Mussolini, Mailand 1932.
[7] Louise Diel: Mussolinis neues Geschlecht. Die junge Generation in Italien. Unter Mitarbeit von Benito Mussolini, Dresden 1934; dies.: Kampf, Sieg und Sendung des Faschismus, Leipzig 1937; dies.: Mussolini mit offenem Visier, Essen 1943.
[8] Vgl. Renzo De Felice: Mussolini, Bd. 3: Il duce, Bd. 3.1: Gli anni del consenso 1929-1936, Turin 1974.
[9] Vgl. Jens Petersen: Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik. Einige deutsche Interpretationen, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 55/56 (1976), 315-360; Jens Fleming: "Durchbruch der Revolution". Die Linke, die Rechte und der italienische Faschismus in der Weimarer Republik, in: Annette Jünemann u. a. (Hgg.): Italien und Europa. Festschrift für Hartmut Ullrich zum 65. Geburtstag. Frankfurt 2008, 91-106.
[10] Fleming, 104-106.
[11] Francesco Vecchiato / Antonella Gargano (Hgg.): Matthias e Werner von der Schulenburg. La dimensione europea di due aristocratici tedeschi, Udine 2006.
Wolfgang Altgeld