Alexander Nützenadel / Wolfgang Schieder (Hgg.): Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa (= Geschichte und Gesellschaft; 20), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 349 S., ISBN 978-3-525-36420-8, EUR 39,90
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Spätestens seit der Osterweiterung der Europäischen Union und der Verwandlung dieses ehemals exklusiven Zusammenschlusses in ein "Europa der 25" haben auch die Geschichtswissenschaften ihre Suche nach einer europäischen Dimension der Zeitgeschichte aufgenommen. In unzähligen Zeitungsartikeln, Aufsätzen und Tagungen widmen sich Historiker der Frage, wie man die Zeitgeschichte europäisieren und eine europäische Zeitgeschichte konstituieren kann. Der vorliegende Sammelband, der auf ein wissenschaftliches Kolloquium an der Universität Köln vom Juli 2000 zurückgeht, ist im Zusammenhang dieser Debatte zu verorten. Allerdings wählen die Herausgeber einen anderen Ausgangspunkt. Ihnen geht es zunächst um eine Bestandsaufnahme der einzelnen nationalen Zeitgeschichten, die auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin analysiert werden. Sie plädieren also für eine vergleichende Historiographiegeschichte als Vorstufe einer europäischen Zeitgeschichte und schlagen fünf Ansatzpunkte für einen Vergleich vor: die Institutionalisierung der Zeitgeschichten, deren unterschiedliche Semantiken, die Abgrenzung der nationalen Zeitgeschichten von anderen historischen Epochen, die Transfergeschichten zwischen den einzelnen Wissenschaftskulturen und die Gegenüberstellung der geschichtspolitischen Kontexte, in denen sich die jeweiligen Zeitgeschichten etablierten.
In insgesamt dreizehn Beiträgen, die samt und sonders auf allerhöchstem Niveau argumentieren, werden die nationalen Zeitgeschichten in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich, Spanien, Italien, Großbritannien, der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden, der Sowjetunion, der DDR, Ungarn, Tschechien und Polen analysiert. So zeigt Martin Geyer, dass die Etablierung der Zeitgeschichte in Westdeutschland nach 1945 aufs engste mit der Interpretation der NS-Zeit verwoben war. Ernst Hanisch beklagt die Dominanz des Staates in der österreichischen Zeitgeschichte und kritisiert die Neuere Kulturgeschichte, die dort einen bedeutenderen Stellenwert hat als andernorts. Walther L. Bernecker und Sören Brinkmann schildern die Herausbildung des contemporaneísmo in Spanien und resümieren die neuere Forschung zur Franco-Ära. Christoph Strupp weist nach, wie eng die niederländische Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem nationalen Gedächtnis verknüpft war, und Stefan Plaggenborg mahnt zurecht eine Gesellschaftstheorie an, mit der die Entwicklung der Sowjetunion von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Zusammenbruch 1990/91 analysiert werden kann. Martin Sabrow schließlich zeigt, wie die DDR die Vergangenheit für die Gegenwart nutzbar machte, indem die Abteilung Wissenschaften im Zentralkomitee der SED die Zeitgeschichte ans Gängelband nahm. So wurde die Zeitgeschichte der DDR mehr und mehr zu einer durchherrschten Fachdisziplin.
Thematisch dominieren die Analyse der Institutionalisierung der Zeitgeschichte und ihrer geschichtspolitischen Kontexte. Zur Begriffsgeschichte erfährt man nur wenig, zur Transfergeschichte fast nichts. Im Mittelpunkt steht die beeindruckende Vielfalt der einzelnen Zeitgeschichten. Dabei zeigt sich, dass bei allen Unterschieden doch auch wichtige Gemeinsamkeiten bestehen: Die meisten Autoren des vorliegenden Sammelbandes arbeiten den schon lange beklagten methodischen Konservativismus der Zeitgeschichte heraus, der viel zu häufig in einer traditionellen akteurszentrierten Politikgeschichte stehen bleibt, nicht selten einem positivistischen Aktenfetischismus verfällt und zunehmend seltener interdisziplinär arbeitet. Auffällig ist die mangelnde Reflexion des Problems ihrer eigenen Zeitgenossenschaft durch viele Zeithistoriker. In Großbritannien und Frankreich scheint dieses Problem geringer ausgeprägt zu sein, denn dort bezieht sich Zeitgeschichte als Begriff auf eine wesentlich länger zurückreichende Epoche. Als weitere Gemeinsamkeit der nationalen Zeitgeschichten in Europa lässt sich deren Spannungsverhältnis zu den Gedächtnis- und Erinnerungskulturen festhalten. Viele Beiträge zeigen, dass Memoiren und Zeitzeugenaussagen oftmals mit den wissenschaftlichen Erzählungen konfligieren, obwohl die Oral History eine Möglichkeit bietet, beide Narrative miteinander zu verbinden. Auch sticht der im Vergleich zu anderen historischen Disziplinen äußerst normative Impetus der Zeitgeschichte ins Auge. In den meisten der hier behandelten Länder wird die Parteilichkeit der Zeitgeschichte zumindest unterschwellig zur moralisch gebotenen Grundhaltung stilisiert. Eine solche Haltung mag vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem NS-Regime und der Shoah verständlich sein. Dennoch stellt sich die Frage, inwieweit eine primär moralische Herangehensweise nicht auch erkenntnishemmend wirken kann.
Eine letzte Gemeinsamkeit der nationalen Zeitgeschichten, dies ist schon ein Gemeinplatz, ist deren Fixierung auf das eigene Land. Damit einher geht in vielen Fällen eine eigentümliche Tendenz zur Selbstviktimisierung, etwa in Ungarn, wo die Ereignisse von 1956 in die nationale Meistererzählung von den "Revolutionen und Freiheitskämpfe" seit dem 16. Jahrhundert eingeordnet werden. Immerhin zeigen die Aufsätze zu Spanien, Italien und der Tschechischen Republik, dass das Opfernarrativ mehr und mehr zu bröckeln beginnt und sich dort auch so etwas wie eine "Täterforschung" zu etablieren beginnt. Gleichwohl ist der Weg zu einer kritischen Zeitgeschichtsforschung dort noch weit. In vielen europäischen Ländern erfüllt Zeitgeschichte, so könnte man pointiert formulieren, immer auch die Funktion einer Legitimationswissenschaft. Für das Projekt einer Europäisierung der Zeitgeschichte liegt darin die nicht zu unterschätzende Gefahr, den erfolgreichen Weg zur Europäischen Integration durch eine Meistererzählung, die alle Brüche und Diskontinuitäten nivelliert, zu rechtfertigen. Eine Fachdisziplin "Europäische Zeitgeschichte" bedarf meines Erachtens eines gemeinsamen Gegenstandsbereiches und gemeinsamer Standards wissenschaftlicher Forschung. Es ist das Verdienst des vorliegenden Bandes, die Besonderheiten der einzelnen nationalen Zeitgeschichten aufgezeigt zu haben. Deren analytische Potenziale, aber auch deren Defizite zu kennen, wird das Projekt einer Europäischen Zeitgeschichte voranzutreiben helfen.
Armin Nolzen