Ralph L. Dietl: Equal Security. Europe and the SALT Process, 1969-1976 (= Historische Mitteilungen. Beihefte; Bd. 85), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, 251 S., ISBN 978-3-5151-0453-1 , EUR 49,00
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Einen Tag nachdem das amerikanisch-sowjetische Interimsabkommen vom 26. Mai 1972 über die Begrenzung strategisch-nuklearer Offensivwaffen am 3. Oktober 1977 formal außer Kraft getreten war, stellte man sich im Auswärtigen Amt wieder einmal eine alte Grundsatzfrage: ''Differieren die (wohlverstandenen) Interessen der USA bei SALT wirklich wesentlich von denen der europäischen NATO-Partner?'' [1] Diese Grundsatzfrage war im Herbst 1977 genauso aktuell und umstritten als zu Beginn jener Rüstungskontrollverhandlungen zwischen den Supermächten über die Begrenzung ihrer strategisch-nuklearen Waffen (Strategic Arms Limitation Talks (SALT)). Die sachliche Erörterung dieser Grundsatzfrage war das komplexe Geschäft von Experten in staatlichen Bürokratien. Ihre politische Bewertung oblag den Staatsleitungen. Zwischen den Staaten der nordatlantischen Allianz fanden intensive SALT-Konsultationen statt. Die Verhandlungen waren die ausschließliche Domäne der Supermächte und das "grand game of power politics" (14) zu Zeiten der Détente in den 1970er Jahren. Der SALT-Prozess symbolisierte die Ohnmacht der von den USA abhängigen Staaten NATO-Europas, die SALT als Beitrag zur vermeintlichen Stabilisierung des Ost-West-Verhältnisses politisch unterstützten.
Die genannte Grundsatzfrage wirft nun auch Ralph L. Dietl in seiner Darstellung über das Verhältnis zwischen den westeuropäischen NATO-Staaten und jenem SALT-Prozess in der Zeit von 1969 bis 1976 auf. Dabei handelt es sich um den ersten Band eines zweibändig angelegten Werkes. Der vorliegende Band ist chronologisch gegliedert. In zwei Hauptteilen werden SALT I (1969-1972) und die erste Phase von SALT II bis zum Ende der Ford-Administration (1972-1976) behandelt. Im Folgeband soll das Thema für die Zeit der Ära Carter bis 1979 untersucht werden. Dietl folgt dem Konzept einer klassisch-bewährten, quellennahen und zugleich militärhistorisch fundierten Geschichtsschreibung von der internationalen Politik. Die Behandlung dieses Spezialthemas war ein Desiderat der historischen Forschung. Nicht nur die spezifische Fragestellung von Dietls Darstellung ermöglicht historischen Erkenntnisgewinn, sondern auch sein Quellenmaterial. Zahlreiche Quellen werden der Forschung zum ersten Mal präsentiert. So kann Dietl wichtige transatlantische Entscheidungsprozesse im Blick auf SALT beleuchten, die bisher unbekannt waren. Der Band stützt sich vor allem auf die staatlichen Überlieferungen der USA, der Bundesrepublik Deutschland und Großbritanniens, die entweder teilweise ediert vorliegen (etwa AAPD und FRUS [2]) oder die der Autor in Archiven recherchiert hat.
Dietl beleuchtet eindrucksvoll, dass dem SALT-Prozess in den transatlantischen Beziehungen stets kardinales Gewicht zukam. Denn die Glaubwürdigkeit der erweiterten nuklearen Abschreckung der USA zugunsten NATO-Europas hing ultimativ nicht nur von der Verfügbarkeit US-amerikanischer strategisch-nuklearer Waffen ab, sondern ebenso vom politischen Willen an höchster Stelle in Washington, diese Mittel in extremis auch einzusetzen - und zwar gemäß der NATO Strategie MC 14/3 auch als Antwort auf einen zunächst lokalen Krieg in Europa nach einem Angriff des Warschauer Paktes. Das irreversible Faktum der beiderseitig gesicherten Vernichtungsfähigkeit der Supermächte höhlte allerdings die Glaubwürdigkeit der erweiterten amerikanischen Abschreckung weitgehend aus. Der SALT-Prozess warf hierauf ein grelles Licht. SALT war aus Sicht der europäischen US-Verbündeten stets ein Lackmustest für die Frage, ob Washington einen Primat der Allianzpolitik verfolgte oder ein Kondominium mit Moskau institutionalisieren wollte. Die US-Versicherungen gegenüber NATO-Europa blieben ewig gleich: die NATO gehe vor; die US-SALT-Politik werde die NATO nicht schädigen; es gäbe kein Kondominium der Supermächte (22).
Dietl zeigt aber überzeugend und detailliert (230): ''European security interests were constantly endangered.'' Die transatlantischen Probleme um SALT lagen zumeist im Detail, aber auch im Grundsätzlichen. Würde SALT zu einem beiderseitigen Einvernehmen der Supermächte über den Nichtersteinsatz von Kernwaffen führen? Jedenfalls Breschnew wollte Nixon und Kissinger hierzu bringen, während er im gleichen Atemzug warnte, Washington solle nicht auf das ''whispering'' der europäischen US-Alliierten hören (123). Wie Dietl nachweist, hatte das amerikanisch-sowjetische Abkommen über die Verhütung von Atomkriegen vom 22. Juni 1973 jedenfalls aus französischer Sicht einen unverkennbaren ''no-first-use flavor''. Auch etwa Egon Bahr kam zu einer ähnlichen Schlussfolgerung (154).
Dietls eigene These ist, dass bereits SALT I tatsächlich zur Etablierung eines ''condominium'' der Supermächte geführt habe (101). Das ''decoupling of US and European security'' sei die Folge gewesen (102). Wäre es in Europa zum Ernstfall gekommen, hätte das nationale US-Interesse der vollen Exekution der NATO-Strategie entgegengestanden: ''Limited wars were the remaining option. The battlefield was Europe.'' Die in SALT kodifizierte strategisch-nukleare 'Parität' der Supermächte habe zu ''unequal security for the US and Europe'' geführt (106).
Angesichts dieser zugespitzten Sichtweise, die im Licht neuer Quellen plausibler erscheint als je zuvor, drängen sich zwei Fragenbündel auf. Wäre es - erstens - für NATO-Europa wirklich vorteilhafter gewesen, wenn die SAL-Verhandlungen gar nicht stattgefunden hätten oder bereits in der Anfangsphase gescheitert wären? War SALT eigentlich der Kern des Problems oder nicht doch die - auch unabhängig von SALT gegebene - strategisch-nukleare 'Parität' der Supermächte? Und wieso kam es - zweitens - während der 1970er Jahre gerade nicht zu einer Transformation der westlichen Sicherheitsarchitektur? Warum wurde der Glaubwürdigkeitsverlust der amerikanischen erweiterten Abschreckung in den Staaten NATO-Europas als nicht so gravierend empfunden, dass diese eine wirkliche Alternative anstrebten?
Wichtig ist in dem Zusammenhang, dass Dietl überzeugend darlegt, dass zumindest Großbritannien in den frühen Jahren des SALT-Prozesses über eine nukleare ''Anglo-French trusteeship'' für Westeuropa als Zukunftsoption nachgedacht hatte für den Fall, dass die USA Truppen aus Europa abziehen und gleichzeitig ihre ''nuclear guarantee'' schwächen würden (39). Wie Dietl zeigt, standen aber sowohl Frankreich als auch die nicht-nukleare Bundesrepublik einer solchen ''Anglo-French trusteeship'', die möglicherweise den Kern einer europäischen Atomstreitmacht hätte bilden können, kritisch gegenüber (145/158). Nukleare Sicherheitspolitik blieb also auch in den 1970er Jahren nationale Sicherheitspolitik - auch weil etwa Washington, wie Dietl betont, London mit dem Zuckerbrot der nuklearen special relationship ködern konnte (121).
Dietl hat eine originelle, facettenreiche und quellenstarke Darstellung zu einem Thema vorgelegt, das für die Geschichte des Ost-West-Konflikts, der transatlantischen Beziehungen und Westeuropas nach 1945 von herausragendem Gewicht ist, welches wiederum in der Forschung bislang stark unterschätzt wurde. Auch angesichts der herausfordernden Thesen des Buchs darf man auf den Folgeband gespannt sein.
Anmerkungen:
[1] Aufz. v. VLR I F. Dannenbring v. 4.10.1977, Arbeitsgruppensitzung AA/BMVg am 6.10.1977; hier: Grauzonen-Papier des BMVg vom 13.9.1977, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin, B 150, Bd. 377.
[2] Für einen Überblick über die bisher erschienen Bände der "Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland" (AAPD) vgl. http://www.ifz-muenchen.de/publikationen/editionen/ed/edition/akten-zur-auswaertigen-politik-der-bundesrepublik-deutschland/; für die "Foreign Relations of the United States" (FRUS) vgl. http://history.state.gov/historicaldocuments
Andreas Lutsch