Rezension über:

Enrico Böhm: Die Sicherheit des Westens. Entstehung und Funktion der G7-Gipfel (1975-1981) (= Studien zur Internationalen Geschichte; Bd. 34), München: Oldenbourg 2014, 357 S., ISBN 978-3-486-75105-5, EUR 49,95
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Rezension von:
Ulrich Lappenküper
Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh
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Ulrich Lappenküper: Rezension von: Enrico Böhm: Die Sicherheit des Westens. Entstehung und Funktion der G7-Gipfel (1975-1981), München: Oldenbourg 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/02/24289.html


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Enrico Böhm: Die Sicherheit des Westens

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Seit der Gründung im Jahre 1949 benutzte die Bundesrepublik Deutschland ihre Außenwirtschaftspolitik wiederholt als Vehikel, um die durch das Besatzungsstatut bzw. die Rechte der für Deutschland verantwortlichen Vier Mächte eingeengten Handlungsspielräume schrittweise zu erweitern. Dass die "Ökonomisierung der internationalen Politik" (Wolfram F. Hanrieder) auch ihre Schattenseite besaß, zeigte sich in den 1970er Jahren mit Beginn der Kanzlerschaft Helmut Schmidts im Gefolge der Erdölkrise und der daraus erwachsenden Weltwirtschaftskrise. Wie der Bonner Regierungschef dieser Herausforderung begegnete, verdeutlichte die 2008 veröffentlichte Studie Johannes von Karczewskis: durch die Intensivierung der europäischen Zusammenarbeit insbesondere mit Frankreichs Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing und durch seine Initiative zur Bildung eines Weltwirtschaftsgipfels der führenden Staats- und Regierungschefs des Westens. [1]

In einer von Eckart Conze betreuten Dissertation hat sich Enrico Böhm nun zum Ziel gesetzt, von Karczewskis Ansatz zeitlich wie sachlich zu erweitern. Während jener sich auf die Entstehung, die Organisation und die Beratungen der ersten vier Gipfeltreffen bis 1978 konzentrierte, und zwar aus dem Blickwinkel des Bundeskanzlers, untersucht Böhm die Genese und die Funktion der G7-Gipfel bis 1981 aus einer internationalen Perspektive. Ohne Frage, sein "zeitlicher Orientierungsrahmen" (34) ist plausibel gewählt: einerseits wegen der "Zäsur" des "Abgang[s] des letzten Gründungsmitglieds" Helmut Schmidt (35), andererseits wegen der somit gegebenen Möglichkeit zu einer multiarchivalischen Forschung. Wie intensiv Böhm allerdings die im Quellenverzeichnis genannten zwölf internationalen Archive ausgewertet hat, bleibt sein Geheimnis. Da eine genaue Auflistung der konsultierten Bestände fehlt, klingt sein selbstbewusst vorgetragenes Credo eines "Korrektiv[s] gegenüber Tendenzen, internationale Geschichte zu nationalisieren" (40), ein wenig hohl. Höchst erstaunlich mutet auch die Nichtberücksichtigung der Akten des Auswärtigen Amts an. Seine Begründung, eine Einsicht in die relevanten Bestände sei ihm "durch die 30-Jahresschutzfrist" verwehrt worden (41), lässt nur den Schluss zu, dass die Archivstudien des 2014 publizierten Buches spätestens 2011 abgeschlossen worden sein müssen.

Unter breitem Rückgriff auf die Entwicklung der Weltwirtschaft seit dem Zweiten Weltkrieg und auf die durch den Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods sowie die Erdölkrise prekäre ökonomische Ausgangslage beschreibt Böhm im ersten Kapitel die Entstehungsgeschichte der Weltwirtschaftsgipfel "als Kind der Krise" (71). Geprägt von den Bildern der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre, wartete Schmidt nach seiner Amtsübernahme 1974 unter dem Eindruck einer tiefgreifenden Schwächung des Westens mit dem Vorschlag auf, die Wirtschafts- und Finanzpolitiken der wichtigsten Industriestaaten mit Hilfe von Spitzengesprächen der politisch Verantwortlichen enger zu koordinieren. Schon als Finanzminister der Regierung Brandt hatte er den Nutzen eines solchen kommunikativen Prozesses in den Beratungen der sog. Library Group erkannt. Als Kanzler schien ihm die Fortführung dieser Gesprächsrunden auf der Gipfelebene umso notwendiger, als ihn angesichts der wachsenden Interdependenz zwischen weltwirtschaftlicher Situation und politischer Stabilität einerseits, sinkender nationaler wirtschaftspolitischer Autonomie andererseits, die Sorge umtrieb, die westlichen Industriegesellschaften könnten unter der Last der Weltwirtschaftskrise zusammenbrechen.

Böhm bestätigt den schon von Karczewski und anderen herausgearbeiteten Befund, dass die Verabredung zum ersten Weltwirtschaftsgipfel 1975 "Schmidts Handschrift" trug (113). Der Kanzler agierte allerdings nicht im Alleingang, sondern in Kooperation mit einer "Vielfalt und Zahl an stimmgewichtigen Akteuren" (113), allen voran Giscard d'Estaing. Im Gegensatz zu von Karczewski geht Böhm in Anlehnung an eine These Dieter Rebentischs [2] davon aus, dass Schmidt dabei vornehmlich "in den Kategorien der wirtschaftlichen Globalsteuerung" dachte (100).

Um "ein Verständnis für die Natur der Gipfel zu entwickeln" (115), wendet sich Böhm im zweiten Kapitel den "Strukturen der Institution G7" zu (42). Er beleuchtet die Mitgliederkonstellation der sich seit 1976 zur "Gruppe der 'Glorreichen Sieben'" (128) entwickelnden Weltwirtschaftsgipfel, skizziert die Treffen unter dem Aspekt etwaiger Besonderheiten, beschreibt die sich etablierenden Arbeitsmodi "Seminar" und "Kamingespräch", präsentiert die Agenden und problematisiert "das Spannungsverhältnis von Gipfeltreffen und Öffentlichkeit" (115).

Im dritten und letzten Kapitel geht es Böhm schließlich um eine systematische Überprüfung seiner These, dass die Staats- und Regierungschefs die G7-Treffen mit Hilfe der drei "Legitimierungstechniken" (43) "Inszenierung, Versicherheitlichung und Selbstvergewisserung" dazu genutzt hätten, "die Akzeptanz ihrer eigenen institutionellen Stellung im demokratischen System und der von ihnen verfolgten Politiken zu erhöhen" (329). Aus Sorge um den Fortbestand der westlichen Demokratie und Marktwirtschaft hätten Schmidt, Giscard und US-Präsident Ford die Wirtschaftspolitik "zum integralen Bestandteil einer neuen, auf gegenseitigen Abhängigkeiten beruhenden Sicherheitspolitik" erklärt und somit "versicherheitlicht" (272). Böhm widerspricht damit den damaligen Akteuren, die eine derart legitimationsstiftende Bedeutung der Gipfel nicht anerkannten. Für Schmidt waren sie lediglich eine "vernünftige, von den Umständen geforderte Problemlösung" (271, Anm. 432). Das letzte Wort zur These Böhms scheint noch nicht gesprochen.

Dies gilt im Übrigen auch für seine Annahme, dass die "wirtschaftliche Entwicklung als Schicksalsfrage [...] ein Novum der internationalen Zusammenarbeit des Westens" gewesen sei (330). Hatte Ludwig Erhard nicht schon 1948 das alte Diktum Walter Rathenaus von der "Wirtschaft als Schicksal" in Erinnerung gerufen und herausgestrichen, dass die Lösung der Weltprobleme à la longue in der Verwirklichung eines von Isolationismus und Protektionismus befreiten Welthandels und einer offenen Partnerschaft aller freien Nationen zu finden sei? [3] Waren nicht auch der Marshall- und der Schumanplan Ausdruck eines um die ökonomische Dimension erweiterten Sicherheitsbegriffs?

Auch formal weist die Arbeit einige Schwächen auf: So wird etwa als Beleg für den Triumvirats-Vorschlag Charles de Gaulles von 1958 auf einen Bericht des Botschafters der Bundesrepublik in Washington aus dem Jahre 1963 (!) verwiesen (14, Anm. 10), obwohl das Dokument seit langem veröffentlicht ist. [4] Und zum Treffen Giscards mit Schmidt vom Juli 1975 dient als Quellenbeleg eine Depesche der amerikanischen Botschaft in Bonn an das State Department (105f.), anstatt die in der Aktenedition des Auswärtigen Amts abgedruckten Protokolle heranzuziehen. [5]

Dessen ungeachtet und trotz mancher sachlicher Unebenheit - die zweite Ölpreiskrise brach nicht 1978, sondern 1979 aus, und der sowjetische Einmarsch in Afghanistan erfolgte nicht 1980, sondern 1979 (35) - erweitert Böhms Studie unser Wissen über die Weltwirtschaftsgipfel in beträchtlichem Maße.


Anmerkungen:

[1] Johannes von Karczewski: "Weltwirtschaft ist unser Schicksal". Helmut Schmidt und die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel, Bonn 2008.

[2] Siehe Dieter Rebentisch: Gipfeldiplomatie und Weltökonomie. Weltwirtschaftliches Krisenmanagement während der Kanzlerschaft Helmut Schmidts 1974-1982, in: Archiv für Sozialgeschichte 28 (1988), 307-332, hier 309; von Karczewski: "Weltwirtschaft ist unser Schicksal", 26.

[3] Rede Erhards vor der 14. Vollversammlung des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes, 21.4.1948, in: ders.: Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg der Sozialen Marktwirtschaft, Düsseldorf / Wien / Frankfurt am Main 1962, 38-61, hier 60.

[4] Memorandum de Gaulles, [17.9.1958], in: Documents diplomatiques français, hrsg. vom Ministère des Affaires étrangères, Commission de Publication des Documents diplomatiques français, 1958, Bd. 2, Paris 1993, 377.

[5] Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1975, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, bearb. von Michael Kieninger, Mechthild Lindemann und Daniela Taschler, München 2006, Dok. Nr. 228.

Ulrich Lappenküper