Bernd Stöver: Die Bundesrepublik Deutschland (= Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, 147 S., ISBN 978-3-534-14728-1, EUR 16,50
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In Darmstadt weiß man die Gunst der Stunde zu nutzen: Kaum beginnen deutsche Hochschulen Bachelor- und Master-Studiengänge einzuführen, wartet die Wissenschaftliche Buchgesellschaft mit der passenden Literatur auf. "Weil wissenschaftliche Auseinandersetzungen nicht leicht zu durchschauen und noch schwerer zu bearbeiten sind, ist es notwendig diese aufzuarbeiten", so begründen Arnd Bauerkämper, Peter Steinbach und Edgar Wolfrum das Erscheinen der von ihnen herausgegebenen neuen Reihe "Kontroversen um die Geschichte". Als "Studienliteratur" konzipiert, präsentiert sie "die Auseinandersetzungen zu Kernthemen des Geschichtsstudiums" und beabsichtigt dabei, "Studierenden die Vorbereitung auf Lehrveranstaltungen und Examenskandidaten ihre Prüfungsvorbereitung zu erleichtern". Die einzelnen Epochen der deutschen oder europäischen Geschichte vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, mitunter auch Längsschnitthemen gewidmeten Bände zielen mithin "nicht auf eine erschöpfende Darstellung historischer Prozesse, Strukturen und Ereignisse, sondern auf eine ausgewogene Diskussion wichtiger Forschungsprobleme, die nicht nur die Geschichtsschreibung geprägt, sondern auch die jeweilige zeitgenössische öffentliche Diskussion beeinflusst haben" (VII). Gelingen kann ein solches Projekt nur, wenn der Leser objektiv und präzise informiert wird; ein Anspruch, den der von Bernd Stöver, Privatdozent an der Universität Potsdam, geschriebene Band über die Bundesrepublik Deutschland nur bedingt einzulösen vermag.
Den Dispositionsprinzipien der Reihe entsprechend, schließt Stöver nach der einleitenden Entfaltung seines Themas ein schlicht "Überblick" (14) genanntes Kapitel an, das die Auswahl der behandelten Deutungskontroversen begründet. Im Hauptteil (30) erörtert er sodann "Forschungsprobleme": die Entscheidung für einen separaten Weststaat Bundesrepublik und deren Integration in das westliche Bündnis bis 1955; die Frage nach "Neubeginn oder Restauration nach 1945" (46); die bereits vor der Gründung der Bundesrepublik einsetzende "Debatte um die NS-Zeit" (61); die "Herausforderungen durch Extremismus und Wirtschaftskrise" (74); die "Voraussetzungen und Folgen der 'Achtundsechziger-Bewegung'" (88); die "Deutschland- und Wiedervereinigungspolitik der Bundesrepublik" (102).
Wohl auch dem äußerst knapp bemessenen Raum geschuldet, leidet Stövers Darstellung daran, dass er sich allzu oft mit einer bloßen Wiedergabe einzelner Forschungsthesen ohne nähere Erklärungen oder eigene Stellungnahme begnügt. Letzteres überrascht umso mehr, als er an anderen Stellen mit seiner Meinung keineswegs hinter dem Berg hält, ohne sie aber quellenmäßig belegen zu können. Dass "man" etwa in der deutschen Historiographie jetzt zu der Auffassung tendiere, bereits 1944/45 sei "die Idee von Kooperation und Kontrolle zentrales Leitmotiv" der französischen Deutschlandpolitik gewesen (15), hält einer näheren Prüfung der einschlägigen Literatur kaum stand. Und wenn Stöver im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik schreibt, die SPD habe ihren Vorsitzenden Kurt Schumacher zum Umdenken gezwungen und im Herbst 1952 ein Konzept für ein kollektives Sicherheitssystem vorgelegt, kann man nur darauf hinweisen, dass Schumacher bereits im August 1952 verstorben war. Auch die Darstellung der Deutschlandpolitik Konrad Adenauers weist Ungereimtheiten auf. So verteidigt Stöver die von Rolf Steininger vertretene These, der Widerstand des ersten Kanzlers der Bundesrepublik sei entscheidend für die fehlende Bereitschaft der Westmächte gewesen, die sowjetischen Angebote zur Wiedervereinigung auszuloten. Dabei übergeht er aber nicht nur die dezidiert negative Haltung der Westmächte zu den Stalin-Noten, sondern verliert auch kein Wort über die Berliner Außenministerkonferenz von 1954 oder über die Tatsache, dass Adenauer weder in Berlin noch auf der Gipfelkonferenz in Genf 1955 mit am Verhandlungstisch saß.
Von den Bemühungen des Außenministers Heinrich von Brentano um eine Aufweichung der Beziehungen zu Ostmitteleuropa erfährt der Leser ebenfalls kein Wort. Die grundlegende Studie von Daniel Kosthorst [1] scheint Stöver unbekannt zu sein. Seine wohl prophylaktisch gemeinte Erklärung, das Fehlen einzelner Arbeiten im Literaturverzeichnis sei "der persönlichen Wahrnehmung" (123) anzulasten, kann kaum überzeugen.
Mangelnde sprachliche Sorgfalt weist die Formulierung von der "Wiederangliederung des Saarlandes an das Bundesgebiet" 1957 (28) auf. Schlichtweg falsch ist Stövers Behauptung, Bundeskanzler Ludwig Erhard habe das von ihm propagierte Konzept der "formierten Gesellschaft" bereits in seiner "ersten Regierungserklärung" (89) dargelegt, die bekanntlich im Oktober 1963 stattfand. De facto präsentierte der Kanzler seinen Plan erstmals auf dem CDU-Parteitag im März 1965. Nicht minder unrichtig ist es, den Abschluss des "Prager Vertrages" zwischen der Bundesrepublik und der ČSSR ins Jahr 1970 zu legen (11). Der NATO-Doppelbeschluss von 1979 erschöpfte sich nicht in der Aufstellung von amerikanischen Mittelstreckenraketen, denn die Entscheidung enthielt bekanntermaßen auch das Angebot zu Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion.
Der Wunsch der Herausgeber, die Reihe "Kontroversen um die Geschichte" möge "einen festen Platz in den Bücherregalen von Studierenden der Geschichtswissenschaft, aber auch benachbarter Disziplinen" einnehmen (VIII), ist verständlich. Stövers Beitrag wird zur Realisierung dieses Wunsches wohl nur wenig beitragen.
Anmerkung:
[1] Daniel Kosthorst, Brentano und die deutsche Einheit. Die Deutschland- und Ostpolitik des Außenministers im Kabinett Adenauer 1955-1961, Düsseldorf 1993.
Ulrich Lappenküper