Eduard Mühle: Die Slawen im Mittelalter zwischen Idee und Wirklichkeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 503 S., ISBN 978-3-412-51898-1, EUR 49,00
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Mit seiner umfangreichen Monografie über die Slawen im Mittelalter widmet sich Eduard Mühle einer doppelten Fragestellung. Zum einen geht es um die Frage nach einem slawischen Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsbewusstsein vom ersten Auftreten des Slawennamens in byzantinischen Quellen des 6. Jahrhunderts bis in das Hoch- und Spätmittelalter, in dessen Verlauf sich mehrere Reiche mit slawischsprachigen Bevölkerungen etablierten. Zum anderen geht es um diese Reichsbildungen im östlichen Europa vom ersten bulgarischen Reich, Karantanien und Mähren über die Kiewer Rus' bis zu den Herrschaftsbildungen in Polen, Böhmen, Kroatien und Serbien. Leitendes Erkenntnisinteresse ist dabei stets die Suche nach Spuren eines alle slawischsprachigen Bevölkerungen und Herrschaftsträger verbindenden Selbstbewusstseins und nach der Bedeutung des Slawischen für die Legitimierung von Herrschaftsansprüchen in den Reichsbildungen im östlichen Europa.
Ausgangspunkt ist der moderne Diskurs über die Slawen, dessen Anfänge in das 16. Jahrhundert zurückreichen. Mühle skizziert in einem breit angelegten Eingangskapitel die "Erfindung der Slawen in der Neuzeit" und spricht dabei die unterschiedlichen Akzentsetzungen an, die den Blick auf die Slawen in Barock und Romantik im 19. und im 20. Jahrhundert prägten. Sprache und Kultur wurden als vermeintlich verbindendes Element eines Slawentums gedeutet, bevor es im 19./20. Jahrhundert zu einer politischen Aufladung dieses Gedankengutes mit ganz unterschiedlichen Zielsetzungen - panslawische Ideen unter Führung oder in Abwehr Russlands, panslawische Partizipationsansprüche im Habsburgerreich und panslawische Ideen in Konfrontation zu deutschen Herrschaftsambitionen - gekommen ist. Vor diesem Hintergrund verfolgt Mühle seine Fragen nach der Bedeutung gesamtslawischer Konzeptionen in der Vormoderne.
Die Darstellung bietet zunächst einen komprimierten Abriss der kulturellen und politischen Entwicklung in Osteuropa vom 6. bis zum 15. Jahrhundert. Sie beginnt mit der Frage nach dem Beginn der Wahrnehmung von Slawen in den ältesten Beschreibungen slawischer Krieger und Siedler in oströmisch-byzantischen, lateinischen und arabischen Texten, um dann die Ergebnisse der archäologischen und siedlungsgeschichtlichen Forschung zu den "frühslawischen Lebenswelten" miteinzubeziehen. Es folgen drei umfangreiche Kapitel über die ersten slawischen Herrschaftsbildungen in Bulgarien, Mähren, Karantanien und auf dem Westbalkan, dann die slawischen Reichsbildungen in Bulgarien, Böhmen, Kroatien, Polen, Serbien und der Kiewer Rus' im Kontext der mittelalterlichen nationes-Werdung, schließlich die abgebrochenen Reichsbildungen bei den Elb- und Ostseeslawen, den Pommern und den Balkanslawen. In einem diesen Durchgang abschließenden Rahmenkapitel spricht Mühle dann noch einmal die Außenwahrnehmungen der slawischen Reiche an, die sich in den byzantinischen, arabisch-islamischen und lateinischen Texten der Zeit finden.
Deutlich zeigt sich in Mühles Analyse, dass es im Mittelalter kein slawisches Gemeinschaftsbewusstsein gegeben hat, sondern dass die Herausbildung eines vormodernen natio-Bewusstseins bei den Bulgaren, Böhmen, Polen, Serben, Kroaten und Rus' in jeweils selbständigen, auf die eigene politische Identität rekurrierenden Narrativen gründete. Die Ausnahmen, die Mühle vorstellt, stellen sich als Versuche heraus, zur Legitimierung und Propagierung partikularer Herrschaftsinteressen - so erstmals in der Chronistik in der Kiewer Rus' und in Dalmatien im 12. Jahrhundert - auf eine gemeinslawische Verbundenheit Bezug zu nehmen und sie für die Durchsetzung regionaler Ambitionen zu instrumentalisieren. In Böhmen ist eine solche Strategie erstmals im Kontext der Konflikte König Otakars II. mit dem römisch-deutschen König Rudolf von Habsburg in den 1270er Jahren zu fassen, als der přemyslidische Herrscher mit den benachbarten Piasten in Polen und Schlesien ein Bündnis gegen den Habsburger zu bilden suchte. Für Polen kann Mühle konstatieren, dass erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Idee eines gesamtslawischen Zusammenhangs und einer slawischen Herkunft der Polen formuliert worden ist. Sie geht auf den Chronisten Jan von Czarnków zurück, der zeitweilig in der Kanzlei König Kasimirs III. tätig war, unter König Ludwig von Anjou das Land verlassen musste und nach seiner Rückkehr 1373 die sogenannte Großpolnische Chronik redigierte und erweiterte. Auch in Pommern und Mecklenburg lassen sich im 14. Jahrhundert historiografisch-genealogische Konstruktionen erkennen, die eine slawische Vergangenheit für die aktuellen politischen Interessen der jeweiligen Dynastie - der Greifen in Pommern und der Niklotiden in Mecklenburg - instrumentalisierten. Einen anderen Befund erhebt Mühle für die politische Entwicklung in den rus'ischen Fürstentümern, in Bulgarien, Serbien, Bosnien und Kroatien, wo es zu je eigenen Herrschaftsbildungen kam, die aber ohne jede Bezugnahme auf eine gemeinslawische Vergangenheit und Verbundenheit auskamen.
Slawen und Slawentum sind Imaginationen der Moderne, so resümiert Mühle seine Befunde ganz überzeugend. Sie spielten für die politische und kulturelle Entwicklung Osteuropas in den mittelalterlichen Jahrhunderten keine Rolle. Die bis in die Moderne nachwirkende Vorstellung von einer alle Slawen verbindenden Herkunft und Geschichte ist ganz wesentlich auf eine Außenwahrnehmung zurückzuführen, die erstmals im 6. Jahrhundert in griechischen Texten aus dem Oströmischen Reich erkennbar wird und dann in lateinischen Quellen im Westen und in arabischen Werken in Syrien und Bagdad aufgegriffen und schließlich auf alle Bevölkerungsgruppen im östlichen Europa bezogen wurde, die man sprachlich und kulturell als zusammengehörig verstand. Auch wenn der Slawenname zu Beginn möglicherweise auf eine Selbstbezeichnung jener Gruppen zurückging, die die griechischen Autoren beschrieben, war seine Übertragung auf alle anderen slawisch sprechenden gentes durch lateinische und arabische Chronisten und Ethnografen ein Ergebnis von Unkenntnis und mangelnder Vertrautheit. Nachhaltig wirksam wurde die byzantinische Außensicht auf ihre slawisch sprechenden Nachbarn im Norden vor allem in religiös-kirchlicher Hinsicht. Im späten 9. und frühen 10. Jahrhundert schufen die griechischen Gelehrten Kyrill und Method mit einer neuen Liturgiesprache, dem Altkirchenslawischen, einen Rahmen für die Einbindung der von ihnen missionierten Gemeinden in das griechisch-byzantinische Christentum, eine innovative Leistung der griechischen Mission, die tatsächlich bis heute nachwirkt.
Mühle ist ein glänzend geschriebenes Buch gelungen, das die breite Debatte über politische Identitätskonstruktionen in der Vormoderne um den Blick auf die Herrschaftsbildungen in Ostmittel-, Ost- und Südosteuropa erweitert. Dabei zeigt sich einmal mehr, wie bereichernd und weiterführend die Einbeziehung der osteuropäischen Geschichte zwischen dem 6. und dem 15. Jahrhundert für die gesamteuropäische Mediävistik ist.
Stefan Tebruck