Albrecht Ritschl / Wilhelm Herrmann: Briefwechsel 1875 - 1889. Herausgegeben von Christophe Chalamet, Peter Fischer-Appelt u. Joachim Weinhardt in Zusammenarbeit mit Theodor Mahlmann, Tübingen: Mohr Siebeck 2013, XII + 520 S., ISBN 978-3-16-149975-3, EUR 119,00
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Der 52jährige Göttinger Ordinarius Albrecht Ritschl und der 25jährige Privatdozent Wilhelm Herrmann lernten einander im Herbst 1874 in Halle kennen - im Hause ihres gemeinsamen akademischen Lehrers, des vielseitigen und vielschichtigen Erweckungstheologen August Friedrich Gotttreu [sic!] Tholuck (1799-1877). Für den jüngeren der beiden ersuchte Tholuck den älteren um Förderung und Weggeleit, der darauf jedoch zunächst abweisend reagierte (45). Dennoch entspann sich seit der Jahreswende 1874/5 der hier in jeder Hinsicht schlichtweg mustergültig edierte und kommentierte Briefwechsel, der erst wenige Wochen vor Ritschls Tode am 20. März 1889 endete. Ritschls zunächst abweisende Reaktion war durch seine damalige arbeitsbiographische Situation bedingt: Gerade hatte er mit seinem historisch-systematischen Hauptwerk "Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung" seinen in weit ausgreifenden Studien vorbereiteten theologischen Systementwurf zur Diskussion gestellt. Er wollte gegenwärtiges evangelisches Christentum im Rückgriff auf dessen verstandene Geschichte mit einer konsistenten, handlungsorientierenden Selbstdeutung versehen: Als Gemeinde nämlich, die auf der Basis ihres durch Rechtfertigung und Sündenvergebung versöhnten Gottesverhältnisses in und mit der modernen Kulturwelt an der Vollendung des in Jesus Christus gestifteten Reiches Gottes arbeitet. Dieser Entwurf war dezidiert geschichtlich fundiert, und daraus erwuchs ihm in zwei Richtungen polemisch-reduktionistische Stoßkraft: Er erklärte einmal Begründungsfragen, die über den geschichtlichen Bereich hinaus oder hinter ihn führen wollten, für nutzlos, ja, schädlich - dazu gehörte die immanente Trinitätslehre und die Zwei-Naturen-Christologie ebenso wie die Arbeit an einer geist- oder bewusstseinstheoretisch fundierten allgemeinen Religionstheorie. Er verwies sodann den einzelnen Christen bezüglich der Frage nach seiner Lebens- und Heilsgewissheit auf seine Gliedschaft in der Gemeinde und auf deren geschichtlich fundiertes Gemeinbewusstsein. Damit denunzierte er jeden Rekurs auf hierüber hinausstrebende individuelle Erfahrung als "pietistisch" und mystisch, und das hieß für Ritschl: Der katholischen Papst- und Mönchskirche zugehörig.
Hiermit war Ritschl ein veritables Kunststück gelungen: Sein Systementwurf brachte ihn in Gegensatz zu allen damals um Vorherrschaft ringenden theologischen Richtungen - zu den Konfessionellen ebenso wie zu den Liberalen und zu den Vermittlungstheologen. So nahm Ritschl sich selbst - nicht ohne eine Spur der bei ihm ohnehin fast immer spürbaren Selbstdistanz und Selbstironie - als Einzelkämpfer wahr, der denkbar schlecht geeignet sei, einem homo novus den Weg auf einen Lehrstuhl zu ebnen (48).
Aber es kam alles ganz anders; schon 1879 konnte Ritschl feststellen: "ist es nicht ein Ergebniß über Bitten und Erwarten, daß erst 5 Jahre, nachdem ich den Wurf mit der Versöhnungslehre gethan habe, auf den theologischen Facultäten des westlichen Deutschland mit Ausnahme von Heidelberg meine Methode systematischer Theologie zur Geltung kommt? Ich renommire nicht damit, aber die Freude darüber entschädigt mich für alles, was entgegengesetzter Art ist" (208f.).
Wie dieser Umschwung zu Stande kam, dafür bietet Herrmann das Musterexempel, denn er war von Ritschls Entwurf fasziniert: "Wäre ich nicht auf Ihre Bücher gerathen, so würde ich mich wahrscheinlich noch immer ängstlich und befangen mit Kleinigkeiten abquälen, während ich jetzt mich von einer Wahrheit ergriffen weiß, für die ich mit voller Freudigkeit eintrete" (204). Mehreren anderen jungen Theologen, die am Beginn ihres selbständigen Weges standen, erging es ganz ähnlich, und so scharte sich um Ritschls Bücher, aber auch um ihn selbst rasch eine Schule.
Der vorliegende Briefwechsel eröffnet wichtige Einblicke in deren innere Strukturen und Auseinandersetzungen, aber auch in deren Kampf um Anerkennung und Geltung, in welchem sich Herrmann geradezu mit Terrier-Qualitäten hervortat. So berichtete Herrmann Ritschl, wie er Christoph Ernst Luthardt, einem sehr einflussreichen konservativen Theologen, widersprochen habe, weil dieser auf dem Gebiet der Philosophie das eigentliche Feld für den Kampf um die Wahrheit der christlichen Religion lokalisiert hatte: "Es war ihm sichtlich fatal, als ich ihm erklärte, für mich sei die Lösung des Welträtsels in der Religion und die methodische Darlegung dieser einzig möglichen Lösung in der Dogmatik gegeben" (103). Für Herrmann ergab sich aus diesem Dissens, "daß der Friede nur erreicht wird, wenn es gelingt, ihn und seine Sekte zu exstirpiren" (ibd). Diese Grobheit ist kein Einzelfall; ein andermal äußerte er die Absicht, dem Zürcher Hegelianer Alois Emanuel Biedermann "ordentlich in die Zähne zu treten" (110).
Auch Ritschl war bisweilen nicht zimperlich: Die "freisinnige Theologie" war ihm "frei von Sinnen und Verstand" (230); deshalb stand sie ihm trotz allen Werbens um Gemeinschaft ihrerseits nicht näher als "die Kaffern von der Vermittlung und der vorgeblichen Rechtgläubigkeit" (262). Dennoch: Während Herrmann sich förmlich in literarische Gegner wie den Jenaer Neutestamentler, Kirchenhistoriker und Systematiker Richard Adelbert Lipsius verbiss, blieb Ritschl zu allermeist bemüht, Kontrahenten bei aller Gegnerschaft doch menschlich zu achten. Sehr schön charakterisiert ihn darin seine folgende Bemerkung zu dem jüngst verstorbenen Tholuck: "Es ist mir sehr rührend, daß dieser Führer einer theologischen Entwicklung, die ich abzulösen bestrebt bin, mir friedlich und anerkennend die Hand gereicht hat" (112, Anm. 6). Er blieb immer bemüht, Gesprächsfäden zu bewahren - was dann wiederum Herrmann mitunter veranlasste, den Älteren um Vermittlerdienste zu bitten, wenn er sich in einer Weise, die für einen Privatdozenten nicht wirklich förderlich sein konnte, im Ton vergriffen hatte (vgl. 130; 165-168).
Beiden Korrespondenzpartnern gemeinsam war die Neigung, theologiepolitische Überlegungen in militärischer Terminologie zu entfalten: Göttingen, Ritschls Wirkungsstätte, ist das "Hauptquartier" (267); von hier aus werden "Rekruten" (319) geworben und "Vorposten" (360) ausgesandt bzw. gelenkt, denn es geht ja auch immer um einen umkämpften "Machtbereich" (376) bzw. ein "Terrain" (424). Ritschl wollte dezidiert den Kreis der kirchenpolitischen Parteien nicht um eine neue erweitern (286), aber er wollte seine Schule etablieren - so benutzte er einen Besuch in Berlin, um "die Geltung zu erproben, die ich und die Schule im Ministerium haben" (327). Die Fähigkeit, eine Schule bilden zu können, war ihm ein Kriterium (unter anderen!), an welchem sich über Wert oder Unwert eines theologischen Programms befinden ließ, und so bemerkt er abfällig über das Schleiermachers: "Damit konnte keine Schule gemacht werden" (376).
Aber alle diese taktischen und strategischen Überlegungen und Aktionen standen im Dienste theologisch hoch reflektierter Überzeugungen, deren konkrete Formulierung dann ihrerseits immer wieder von taktischen und strategischen Überlegungen geleitet war. Besonders aufschlussreich sind Herrmanns Ausführungen über den Titel seiner wirkungsgeschichtlich wohl wichtigsten Schrift "Der Verkehr des Christen mit Gott im Anschluß an Luther dargestellt". Der Haupttitel will, so erklärt er Ritschl, mit seinem "mystischen" Anklang an fehlgeleitete religiöse Bedürfniskonstellationen anknüpfen, um diese dann in rechte Bahnen zu lenken; der Bezug auf Luther hat ebenfalls eindeutig legitimatorischen Charakter (382-384). Im Dialog mit seinem jüdischen Kollegen Hermann Cohen konnte Herrmann dieselben Sachinteressen denn auch im Modus der Kant-Deutung entfalten (324; 328). Dennoch: Herrmann ist auch und gerade in der Deutung der reformatorischen Theologie zu Einsichten durchgestoßen, die auch Jahrzehnte später noch ihren Rang und Wert erwiesen: "Stimmen Sie damit überein, daß die Orthodoxie [...] eine Erinnerung an den reformatorischen Grundsatz bewahrt, daß der Glaube nicht einer inhaltlich unbestimmten Autorität folgt, sondern einer solchen Autorität, welche sich durch einen bestimmten und verständlichen Inhalt als eine solche legitimirt?" (398)
Allerdings hat ein randständiger Beobachter schon damals feinfühlig registriert, dass Herrmann sich mit einer derartigen Thematisierung des religiösen Subjekts von Ritschl weg bewegte, was jener vehement bestritt (vgl. 411f. mit Anm. 16). Trotzdem - mochte Ritschl auch im Bewusstsein, mit diesem Schüler wirklich einig zu sein, Herrmann sein Herz über Harnack ausschütten, gegen den er zeitweise verstimmt war, weil dieser den "bedenkliche[n] Anspruch des Dogmenhistorikers gegen den Dogmatiker" (402) gegen ihn erhoben hatte - auch der Dogmatiker Herrmann war schon in einer Absetzbewegung hin zu neuen Ufern begriffen.
So treten auch an diesem Briefwechsel, der die eigentliche Blütezeit der Ritschl-Schule dokumentiert, deutliche Risse und Bruchlinien zutage. Und er zeigt, dass diese strukturell schon in Ritschls eigenem Denken angelegt waren, welches disparate Elemente gewaltsam zu einem scheinbar in sich stimmigen Ganzen zusammenzwang.
Bald nach Ritschls Tode brachten Schüler und Enkelschüler Ritschls die beim Meister selbst dogmatisch gebändigten historistischen Konsequenzen seines Denkens voll zur Geltung und zeigten damit zugleich, dass auch die prinzipientheoretische Reflexion sich nicht in den Grenzen festhalten ließ, die Ritschl ihr gesteckt hatte: Die Ritschl-Schule spaltete sich, und ihr linker Flügel fand Anschluss an die Liberalen. Herrmann gehörte allerdings zu denjenigen, die hier nicht mitgingen. Und mit Karl Barth und Rudolf Bultmann waren es seine beiden prominentesten Schüler, die neue Wege der Offenbarungstheologie bahnten und auf diesen zu Standpunkten gelangten, von denen aus Ritschl und Herrmann dann unversehens als das zu stehen kamen, was sie nie und nimmer hatten sein wollen (319f. mit Anm. 5) - nämlich als "Liberale".
Martin Ohst