Rezension über:

Anna Pawlik: Das Bildwerk als Reliquiar? Funktionen früher Großplastik im 9. bis 11. Jahrhundert, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2013, 351 S., 47 Farb-, 153 s/w-Abb., ISBN 978-3-86568-813-2, EUR 49,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Gia Toussaint
Kunstgeschichtliches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Tobias Kunz
Empfohlene Zitierweise:
Gia Toussaint: Rezension von: Anna Pawlik: Das Bildwerk als Reliquiar? Funktionen früher Großplastik im 9. bis 11. Jahrhundert, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/03/24548.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Anna Pawlik: Das Bildwerk als Reliquiar?

Textgröße: A A A

Selten stellt ein Buchtitel eine Frage. Diese Münsteraner Dissertation tut es, und man darf auf die Antwort gespannt sein, meint man doch sie bereits zu kennen. Sollte tatsächlich die alte, hinlänglich diskutierte Frage von Harald Keller (1951) zum Verhältnis von Großplastik und Reliquiar revitalisiert werden? [1] Um nicht als heidnische Idole zu gelten, so Keller, habe man frühmittelalterliche Großplastik stets mit Reliquien ausgestattet. Spätestens seit den Forschungen von Reiner Haussherr (1963) und Ilene Forsyth (1972) kann die These Kellers als obsolet gelten. [2] Karolingische und ottonische Kruzifixe und Madonnen bargen nicht zwingend Reliquien, das ist inzwischen allgemeiner Konsens. Manche Bildwerke waren mit Heiltümern gefüllt, andere nicht, das Verhältnis ist ausgewogen. Die Diskussion um Kellers Frage schildert die Verfasserin in ihrem Forschungsbericht am Beginn des Buches mit großer Akribie. Die im Laufe der Jahrzehnte geäußerten Argumente sprechen zumeist gegen, in selteneren Fällen für Kellers Annahme. Dennoch meint die Verfasserin, die Hypothese Kellers sei "bis heute heftig umstritten" und habe "Einzug in die Köpfe gehalten" (11). Ob es sich wirklich so verhält, mag dahingestellt bleiben. Dennoch gibt es ein Desiderat, das zum Ausgangspunkt der Überlegungen gewählt wurde: die vielfache Unsicherheit, welche frühmittelalterlichen Großplastiken nun Reliquien bargen und welche nicht. Diese Forschungslücke schließt die vorliegende Arbeit für 47 ausgewählte Objekte aus dem Zeitraum bis 1100 aus dem Gebiet des Heiligen Römischen Reichs nördlich der Alpen.

Kernstück der Arbeit ist deshalb ein vorzüglicher Katalog, der eine Vielzahl von neuen Erkenntnissen bereithält. Berücksichtigt werden Madonnenstatuen und Monumentalkreuze, auch solche, von denen nur schriftliche Quellen zeugen. Mit diesem Katalog ist die Forschung auf den neuesten Stand gebracht. Neben einer Objektbeschreibung wird ein Überblick über die Forschungsgeschichte geboten, soweit sie sich im Einzelfall verfolgen lässt. Wert gelegt wird auf die Dokumentation der konservatorischen Befunde, ergänzt durch viele bis dato unbekannte Fotos. Dieser weit über die Hälfte der Arbeit umfassende Teil ist kenntnisreich und gelungen; er legt die Grundlage für weitere Forschung. Eine tabellarische Übersicht mit den wichtigsten Daten aller behandelten Objekte beschließt den Katalog (328). Der Verlag hat sich nicht entschließen können, diese sinnvolle Tabelle größer abzudrucken - dem Leser bleibt nur der Griff zur Lupe.

Ergänzt wird der Katalog durch ein ausführliches Kapitel (23-97), das eine Beschreibung der Denkmäler in ihrer Materialität und technischen Verfasstheit bietet. Dank des vielfältigen neuen konservatorischen Materials erfährt der Leser viel Interessantes über die Bearbeitung von Bildwerken oder die Gestaltung von Reliquienrepositorien. Gerne hätte man diesen Abschnitt enger mit dem Katalogteil, zum Beispiel über ein Register, verknüpft gesehen.

So sehr der Katalogteil überzeugt, so ratlos lässt der interpretatorische Teil den Leser. Die im Katalogteil vorgelegte "empirische Grundlage" war geschaffen worden, um "die These Kellers und die anderen vorgeschlagenen Überlegungen zur Entstehung der frühmittelalterlichen Großplastik unter neuen Voraussetzungen zu prüfen und zu bewerten" (11). Auf die "anderen vorgeschlagenen Überlegungen zur Entstehung der frühmittelalterlichen Großplastik", etwa die zur Entstehung von Großplastik aus spätantiker Tradition oder auf die Frage nach Idolatrie, die sich auch bei kleineren Kruzifixen stellt, geht die Autorin nicht näher ein. Stattdessen wendet sie sich der "Funktionsgeschichte" ausgewählter großplastischer Objekte - Madonnen und Kruzifixen - zu (11). In diesem Sinne erörtert sie, soweit es die Überlieferungslage zulässt, die verschiedenen Möglichkeiten, Großplastik im Kirchenraum aufzustellen und liturgisch zu nutzen, zum Beispiel bei Prozessionen. Dies alles ist ordentlich zusammengetragen, hält aber inhaltlich wenig Neues bereit.

Das anschließende kleine Kapitel, das den Titel aufgreift und des Rätsels Lösung verspricht, bietet keine Überraschung: "Die von Keller formulierte [zwingende] Verbindung von Reliquien und Skulptur war [...] nicht existent" (159). Nur 14 Objekte enthielten Reliquien, zwölf weisen einen fraglichen Befund auf und 20 wurden ohne Reliquien konzipiert (159). Doch warum manche Madonnen oder Kruzifixe Reliquien bargen, andere nicht, bleibt ohne schlüssige Antwort. Mit der vorgeschlagenen Begründung, die "Primärfunktion" dieser Bildwerke sei nicht die eines Reliquiars, ist das Problem nicht aus der Welt. Was die Verfasserin mit Primärfunktion meint, wird nicht deutlich, hatten doch Reliquiare vielfältige Funktionen. Auch die Vorstellung, dass Reliquien, die man nicht sieht (und um deren Existenz man unter Umständen nicht weiß), nicht wirken würden, ist sehr fraglich. Niemand konnte in Fundamente, Kapitelle oder Altäre eingelassene Reliquien sehen - waren sie deshalb weniger wirksam? Durchtränkt mit der Kraft der Reliquien, die an verborgenen und weniger verborgenen, bekannten und unbekannten Orten ihre Kraft entfalten, bildet der mittelalterliche Kirchenraum eine Heilszone. Die (himmlische und irdische) Gemeinschaft der Heiligen konstituiert die ecclesia, ihr Abbild ist der Kirchenraum. Dort gelten verschiedene Orte als privilegierte Ausgangspunkte der von den Reliquien ausgehenden Heilskräfte: Altäre, Architekturteile und eben auch Madonnen und Kruzifixe. Während Reliquiendepots im Altar verpflichtend waren, galt die Rekondierung in anderen Ausstattungsstücken als optional und richtete sich nach den finanziellen Möglichkeiten des Bistums oder Stifts. Diese Perspektive, die die Beantwortung der Frage einen Schritt weiter bringen könnte, sucht man in der sonst gelungenen Arbeit vergebens.


Anmerkungen:

[1] Harald Keller: Zur Entstehung der sakralen Vollskulptur in der ottonischen Zeit, in: Festschrift für Hans Jantzen, hg. v. Kurt Bauch, Berlin 1951, 71-91.

[2] Reiner Haussherr: Der tote Christus am Kreuz. Zur Ikonographie des Gerokreuzes, Diss. Bonn 1963; Ilene Forsyth: The Throne of Wisdom. Wood Sculpture of the Madonna in Romanesque France, Princeton 1972.

Gia Toussaint