Birgit Aschmann: Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußisch-französischen Kriege des 19. Jahrhunderts (= Beiträge zur Militärgeschichte; Bd. 72), München: Oldenbourg 2013, XII + 548 S., ISBN 978-3-486-71296-4, EUR 49,80
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Wie und zu welchem Ende studiert man die Motive, das Risiko eines Krieges auf sich zu nehmen? Diese Frage schließt natürlich stets die andere und allgemeinere ein, wie über Außenpolitik, außenpolitische Akteure und Entscheidungsprozesse zu schreiben sei. Längst passé sind jene Denkfiguren, in denen die internationalen Beziehungen als gleichsam autonome Sphäre einer von spezifischer Eigenlogik geprägten Machtarithmetik figurierten. Dabei stand im Zentrum der Analyse der unter dem Diktat der Staatsraison agierende Staatsmann, die Analyse kreiste um die Konzeptionen und Entschlüsse einer schmalen Schicht von Herrschaftsträgern. Ebenfalls passé ist das, was sich in den 70er und 80er Jahren hinter dem Schlagwort vom 'Primat der Innenpolitik' versammelt hatte, in dessen radikalster Variante auswärtige Politik nur noch als Funktion jeweils heimischer Konstellationen und Interessenlagen erschien.
Unstrittig war und ist, dass sich Außenpolitik, im Zeitalter der Industrialisierung und industrieller Massengesellschaften zumal, nicht länger auf individuelles Handeln und abstraktes Machtkalkül verkürzen lässt. Vielmehr gilt es, das Augenmerk auf die Verflechtung von wirtschaftlicher Entwicklung, gesellschaftlichem Wandel und außenpolitischer Willensbildung zu lenken. Hier den Zusammenhang von internen und externen Faktoren zu rekonstruieren und deren Bedeutung zu gewichten, ist nach wie vor eine der Aufgaben schlechthin. Wie sie auf innovative Weise bewältigt werden kann, demonstriert Birgit Aschmanns Buch über Preußens Konflikte mit Frankreich, die im 19. Jahrhundert jeder für sich das Machtgefüge in Deutschland und Europa nachhaltig veränderten. Völlig unbekanntes Terrain beschreitet die Untersuchung damit nicht, denn die Kriege von 1806, 1813 und 1870 gehören zu den prominenten, den 'großen' Themen der Geschichtsschreibung. Überraschend und anregend jedoch ist der Blickwinkel, ist das Konzept einer kulturhistorisch gewendeten Kriegsursachenforschung, die viel bewanderte Felder neuerlich durchstreift, nicht auf grundlegende Revisionen versessen ist, aber das Geschehen andersartig konturiert und andersartig erzählt, von der Tradition nicht oder nur am Rande berücksichtigte Aspekte in den Vordergrund rückt, dadurch vertrauten Abläufen neue Dimensionen und neue Einsichten abgewinnt: Das ist eine Leistung, die den Leser fesselt, ihm Respekt abnötigt.
Der Schlüsselbegriff der Studie, der heute in säkularen Milieus kaum noch eine Rolle spielt, aber im 19. Jahrhundert sehr wohl, lautet: Ehre. Ein Zitat aus der 1792 von Wilhelm von Archenholz gegründeten Zeitschrift "Minerva" (1813, Bd. 1) markiert den Auftakt: "Die Ehrliebe ist bei ganzen Nationen ein ebenso kitzlicher Punkt, als bei einzelnen Menschen. Eine Kränkung derselben erzeugt oft blutigen Haß und ist eine furchtbare Quelle der Kriege." Ein von den Zeitgenossen weithin akzeptiertes Mittel, Ehrkonflikte zu lösen, war das Duell auf der individuellen und der Krieg auf der kollektiven Ebene. Ehre hatte, daran ist kein Zweifel, orientierende und handlungsleitende Funktionen, und wichtiger noch: Die vornehmlich auf den Adel bezogenen Vorstellungen wurden vom Bürgertum adaptiert, nach und nach auf die Nation transferiert. Dies als konzeptuelle Basis für die Entschlüsselung der auslösenden Faktoren von Kriegen zu nutzen, läuft auf eine Verknüpfung von kultur- und politikhistorischen Ansätzen hinaus, ist ein Beitrag zu jener sich etablierenden Subdisziplin, die nichts Geringeres vor Augen hat als eine "Kulturgeschichte des Politischen".
Birgit Aschmann schreibt Diskursgeschichte, insofern sie den Debatten um Ehre und Ehrvorstellungen in den verschiedenen Epochen des 19. Jahrhunderts nachgeht. Zugleich steckt darin ein Stück transnationaler Perzeptionsgeschichte, insofern die divergierenden Wahrnehmungen der Konfliktparteien diesseits und jenseits der Grenzen in den Blick genommen werden. Ehre als realitätsmächtiges und nicht bloß als camouflierendes Element in den Entscheidungsprozessen über Krieg und Frieden aufzusuchen, impliziert, zur Sprache und zu den Denkgewohnheiten der Zeitgenossen zurückzukehren, diese ernst zu nehmen und vor den ihnen eigenen Horizonten dem Verstehen zugänglich zu machen. Das Wissen um die "Grammatik der Ehre", resümiert die Autorin, helfe "Zeichen" und kulturelle Codes in ihrer politischen Bedeutung und Wirkmächtigkeit zu erkennen, die darin zum Ausdruck kommenden Aktionen und Reaktionen aus dem Dunstkreis des Irrationalen zu lösen und ihnen eine "binnenlogische Rationalität" zu verleihen. Damit verflüchtigt sich weder machtpolitisches Interesse noch militärisches Kalkül, aber von der Dramaturgie der Ereignisse am Vorabend kriegerischer Auseinandersetzungen, der ihr innewohnenden Dynamik, von den Stufen und Mechanismen der Eskalation lässt sich anders, vielleicht intensiver als bisher erzählen, die Bühne wird heller ausgeleuchtet. Ehre ist Legitimationskapital, zugleich eine Mobilisierungsressource, die zu außerordentlicher Anstrengung und außerordentlichem Opfer stimuliert.
In drei, dem Geschehen von 1806, 1813 und 1870 gewidmeten Fallstudien wird das alles anschaulich und detailliert exemplifiziert. Diese folgen einem vierschrittigen Gliederungsschema: Zunächst werden die je spezifischen Rahmenbedingungen betrachtet und die Akteure charakterisiert, sodann die Prozesse der Eskalation nachgezeichnet, die schließlich in den Entschluss zum Krieg münden. Im Kern ging es dabei, wie nicht anders zu erwarten, um die Frage nach der Stellung Preußens im Gefüge der europäischen Mächte, um Statusverlust und Statusgewinn, was im Verständnis der Handelnden, des Königs und seiner Ratgeber, aufs Engste verknüpft war mit Gewinn und Verlust der Ehre, der Ehre des Monarchen, des Staates, am Ende der Nation, für deren Konstituierung damals der Antagonismus zu Frankreich von zentraler Bedeutung war.
1806 steht für den gescheiterten, gleichsam fünf Minuten nach zwölf erst in Szene gesetzten Versuch, den Rang als Großmacht zu behaupten, 1813 für Wiederaufstieg und Eliminierung der 1806 erlittenen Niederlage, 1870 für das Duell, das die Machtfrage zugunsten der deutschen Einheit unter preußischer Hegemonie entscheidet. Vor allem hier entfaltet der Ehrdiskurs seine appellative, Energie spendende und legitimatorische Kraft, stärker noch als in den antinapoleonischen Befreiungskriegen, wuchert über die engen Kreise des Hofes, des Kabinetts und der Diplomatie hinaus, wird auf breiter Front nationalisiert, auch veräußerlicht und vulgarisiert. Die Rolle, die dabei die öffentliche Meinung spielt, kann gar nicht überschätzt werden. Das galt für Frankreich ebenso wie für Preußen, war verantwortlich für Fehlwahrnehmungen, für Erregung und Kriegsgeschrei in den Parlamenten und der Presse, machte hüben wie drüben die Menschen bereit, um der Ehre der Nation willen auf die Schlachtfelder zu ziehen. Dass Bismarck einen "langfristig angelegten Plan" im Kopf gehabt habe, bezweifelt die Verfasserin, betont vielmehr die situativen Elemente seiner Taktik, abzulesen an der erst relativ spät, dann aber umso beherzter ergriffenen Chance, das von Paris herausgeforderte Ehrgefühl seiner Landsleute und die darin sich offenbarenden Integrationspotentiale für seine deutschlandpolitischen Ambitionen einzuspannen. "Nation und Ehre", so Birgit Aschmann, wurden auf dem Höhepunkt des Streits um die Hohenzollernkandidatur für den spanischen Thron "zum unhinterfragten, kollektiven 'Letztwert' deklariert", ganz im Sinne der Verse, die am 19. Juli 1870 in der konservativen "Kreuzzeitung" zu lesen waren: "Nichtswürdig ist die Nation, / Die nicht ihr Alles freudig setzt an ihre Ehre."
Jens Flemming