Jan Andres / Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (Hgg.): "Nichts als die Schönheit". Ästhetischer Konservatismus um 1900 (= Historische Politikforschung; Bd. 10), Frankfurt/M.: Campus 2007, 368 S., ISBN 978-3-593-38334-7, EUR 39,90
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Die Jahre oder besser: die Jahrzehnte "um 1900" sind seit geraumer Zeit schon Gegenstand ausgedehnter Explorationen, an denen mehrere Disziplinen beteiligt sind. Ob sie eine Epoche aus eigenem Recht mit trennscharf abzugrenzenden Merkmalen, ob sie so etwas wie einen unverwechselbaren Habitus ausgebildet haben, ist noch längst nicht ausgemacht. Weder gibt es ein überzeugendes Anfangs- noch ein ebenso überzeugendes Enddatum, und die schlichte, der politischen Ereignisgeschichte entlehnte Bezeichnung 'Wilhelminismus' oder 'wilhelminische Ära' in Abgrenzung zu der Bismarcks dürfte für kulturwissenschaftliche Studien zumal wenig hilfreich sein. Jedenfalls wird sie dort so gut wie nicht benutzt. So bleibt der zeitliche Rahmen, in dem sich die hier versammelten Aufsätze bewegen, ein wenig vage: Er erstreckt sich von den 1880er- bis in die 1930er-Jahre, Friedemar Apels Essay über "konservative Anarchie" oder "Individualismus als Politik" spannt den Bogen gar bis in die Gegenwart, verliert sich am Ende in zivilisationskritischen Assoziationen: professorale Klagen, deren diagnostisches Potential seltsam dürftig ist.
Kein Zweifel, der Status der Jahrhundertwende bedarf weiterer Klärung. Soviel jedoch lässt sich nach der Lektüre des vorliegenden Buches sagen: Sie war der Abschluss und in mancher Hinsicht die Aufgipfelung der alten, den Traditionen des 'Ancien Régimes' verhafteten Welt des 19. Jahrhunderts, und es ist kein Zufall, dass sie im Bewusstsein der Zeitgenossen und mehr noch der Nachlebenden als 'belle époque' figuriert, als zwar bedrohtes, im ganzen aber besonntes, durch den Krieg von 1914/18 unwiderruflich zerstörtes Zeitalter der Bürgerlichkeit, bürgerlicher Stabilität und Sekuritätsbedürfnisse. Zugleich aber markiert der 'fin de siècle' den Auftakt der 'Moderne', ist Inkubationsphase jener Bewegungen und Momente, die bis in unsere Tage hineinragende soziokulturelle Muster, Lebensstile und Lebensrhythmen geprägt haben. Womöglich ist es dies, das nach wie vor nicht Abgegoltene, das der 'Epoche um 1900' gegenwärtig so viel an Aufmerksamkeit beschert. Kennzeichnend ist die Verschränkung von Tendenzen eines radikalen oder zumindest radikal gedachten Wandels mit widerständigen Kräften der Beharrung, die sich ihrerseits jedoch genötigt sehen, bestimmte Elemente der Moderne zu adoptieren, in ihre Praxis zu inkorporieren. Spezifisch ist nicht die Widersprüchlichkeit als solche, spezifisch vielmehr ist, dass sie wahrgenommen, reflektiert wird. Ihre Geschichte ist daher nicht nur die Geschichte einer komplexen Dynamik von Aktion und Reaktion, sondern auch die einer permanenten selbstreflexiven Aufarbeitung ihrer Voraussetzungen, ihrer Krisen und Konflikthaftigkeit, der Chancen, die sie bereithält, ebenso wie der Gefahren, die tatsächlich oder vermeintlich von ihr ausgehen.
Als Leitbegriff, der den Beiträgern zur Entschlüsselung epochenspezifischer Konstellationen aufgegeben ist, fungiert "Ästhetischer Konservatismus". Von ihm wird anfangs sogleich festgestellt, er sei keineswegs identisch mit politischem Konservatismus. Dieser sei, sagen die Herausgeber, "wertsetzend, traditions- und kontinuitätsorientiert", jener dagegen vertrage sich durchaus mit "politisch-gesellschaftlicher und kultureller Radikalität". Gefragt wird also nach den Beziehungen, den Schnittmengen zwischen kultureller und politischer Sphäre, zwischen konservativ und modern, Tradition und Avantgarde. Dabei zeigt sich, wie nicht anders zu erwarten, dass vielfältige Mischungsverhältnisse existieren. Kai Kauffmann, die Befunde des Sammelbandes resümierend, schlägt daher als Orientierung für künftige Forschungen vor, "vier Klassen" zu unterscheiden: "1) ästhetisch konventionell und weltanschaulich konservativ, 2) ästhetisch innovativ / modern und weltanschaulich konservativ, 3) ästhetisch konventionell und weltanschaulich progressiv, 4) ästhetisch innovativ / modern und weltanschaulich progressiv."
Dass es plausibel sein kann, solchermaßen zu rubrizieren, dafür liefern die einzelnen Aufsätze einiges Anschauungsmaterial. Die Autoren sind mehrheitlich Literaturwissenschaftler, ergänzt durch je einen Soziologen und Philosophen, eine Repräsentantin der historischen Bildungsforschung, einen Architekturhistoriker und einen Musikwissenschaftler. Die Themen sind breit gestreut, die meisten mehr oder minder angelagert an die Jahrhundertwende, einige allerdings überschreiten den zeitlichen Focus: wohl am deutlichsten Burckhard Dücker, der das Augenmerk auf die formalen Charakteristika und die ideologischen Botschaften des nationalsozialistischen Thingspiels der 30er Jahre lenkt: "ein Produkt des fundamentalen politischen Systemwechsels vom demokratischen zum totalitären Staat", was sich allerdings in die zitierten vier Schubläden nicht recht einfügen mag, denn das Etikett konservativ taugt für die Beschreibung des Nationalsozialismus nicht. Johannes Roggenhofer versucht, ästhetischen Konservatismus philosophisch zu erfassen, wobei hinter seine Definition des "revolutionären Konservatismus" ein Fragezeichen zu setzen ist. Denn der hatte, zumindest in den späten 20er Jahren durchaus Künftiges, Vergangenheit und Gegenwart Transformierendes und nicht bloß durch die Geschichte Beglaubigtes zum Ziel. Wolfgang Braungart analysiert den Zusammenhang von ästhetischem Konservatismus und Kulturkritik, dabei unter anderem die "Schönheit" hervorhebend, jene von Karl Vanselow verantwortete, mit den Zeichnungen von Fidus alias Hugo Höppener, dem Heros des androgynen, nackten Leibes geschmückte Zeitschrift.
Carola Groppe berichtet, an Bourdieu anschließend, über Bildung und Habitus in Bürgerfamilien um 1900. Am Beispiel von Textilunternehmern in Langenberg, einer Stadt im Bergischen Land, zeigt sie, dass politischer und kultureller Konservatismus keineswegs identisch war mit "Antimodernismus". Johannes Heinßen geht in einer sehr anregenden Studie den Oszillationen von historisierender Ästhetik und ästhetisierter Historie nach, was nicht zuletzt heißt, der um 1900 offenbar werdenden Krise des Historismus auf die Spur zu kommen. Justus H. Ulbricht nimmt Bemühungen in den Blick, dem nachklassischen Weimar wieder zu kultureller Blüte und Bedeutung zu verhelfen. Stefan Breuer rekonstruiert am Beispiel von Julius Langbehn Dimensionen des politisch ästhetischen Konservatimus, dabei bestätigend, dass Konservatismus um 1900, jedenfalls à la Langbehn, sich nicht mehr in den tradierten Bahnen des preußischen Konservatismus bewegt, sondern seinerseits wesentliche Elemente der modernen Welt sich anverwandelt oder anverwandelt hat. Barbara Beßlich verfolgt in drei Stufen die Entwicklung Richard Dehmels, den Frank Wedekind einst den "größten deutschen Dichter" genannt hat: von der Naturalismus-Kritik über die Jugendstil-Dichtungen der Jahrhundertwende bis hin zum publizistischen Kriegseinsatz 1914. Jan Andres nutzt erinnerungshistorische Konzepte Pierre Noras für eine Interpretation von Georges "Tafeln" des "Siebten Rings" als Manifestation einer "kulturellen Avantgarde der Erneuerung" - einer Erneuerung freilich "aus dem Geist der Vergangenheit".
Toni Tholen schreibt über den ästhetisch-ethischen Konservatismus bei Hofmannsthal, Volker Riedel über konservative bis antisemitische Versatzstücke im Frühwerk Heinrich Manns, ein Sujet, das seit einiger Zeit ein gewisses Maß an Prominenz genießt. Markus Bernauer nimmt sich Julius Meier-Graefe und dessen am Impressionismus und Symbolismus geschärfte Kritik an den "Fehlentwicklungen" der Kunst des 19. Jahrhunderts vor, Wolfgang Sonne beobachtet den Gleichklang von traditionalistischer Architektur und politischem Konservatismus am Beispiel von Paul Schmitthenner und Paul Schultze-Naumburg, und Werner Keil richtet das Interesse auf die Wurzeln der musikalischen Avantgarde, das heißt auf Arnold Schönberg und seine Schule. Kai Kauffmann zieht das unvermeidliche Resümee, den "heuristischen Vorteil" beschwörend, den ein Begriff wie "ästhetischer Konservatismus" biete, nämlich "wichtige Aspekte der Künste um 1900 überhaupt erst in den Blick zu rücken und miteinander in Beziehung zu setzen." Die Beiträge dieses Bandes sind darauf aus, dessen Tragfähigkeit zu erproben: "Seine Stärken und Schwächen", fügt Kauffmann hinzu, "müssen sich in weiteren, möglichst differenzierten Fallanalysen des historischen Problemfeldes erweisen."
Jens Flemming