Michael Meyen / Anke Fiedler: Wer jung ist, liest die Junge Welt. Die Geschichte der auflagenstärksten DDR-Zeitung (= Forschungen zur DDR-Gesellschaft), Berlin: Ch. Links Verlag 2013, 279 S., 71 s/w-Abb., ISBN 978-3-86153-749-6, EUR 29,90
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Die Autoren dieses Buches sind durch mehrere achtbare Forschungsarbeiten zur Mediengeschichte der DDR ausgewiesen. Diesmal haben sie sich allem Anschein nach vorgenommen, den streng wissenschaftlichen Duktus zu verlassen. Offenbar wollten sie sich im Stil ihrem Gegenstand, der Jugendzeitung "Junge Welt", und ihrer Leserschaft anpassen. Den Ratschlag "Sie müssen so ein Buch als Erzählung anlegen." (57), den ihnen jemand bei ihren Interviews gegeben hat, haben sie jedenfalls ernst genommen. Das Buch ist über weite Strecken in einem reportageartigen, lockeren Ton geschrieben. Üblich sind unvollständige Sätze und modische Wendungen. Hinzu kommen Aktualitätsbezüge und überflüssige Umstandsschilderungen. So wird der Leser beispielsweise darüber unterrichtet, dass es regnete, als sich die Autoren mit einem Gesprächspartner am 20. Juni 2012 in Berlin trafen, Deutschland noch nichts von dem italienischen Fußballspieler Mario Balotelli ahnte und der Fußball Pause hatte. Woanders gelangten die Autoren in ein Landhaus, "groß genug für einen riesigen Hund" (57), bei einem anderen Befragten kommt man nicht an seiner Tochter vorbei. Und dann wird auch noch mitgeteilt, dass Anke Fiedler, als sie einen Gesprächspartner besuchte, Schneereste vor der Tür fand und als Westdeutsche nicht recht mit dem Klingelsystem zurechtkam. Muss man das alles wirklich wissen?
Michael Meyen und Anke Fiedler wollen die Geschichte der "Jungen Welt" nachzeichnen, nicht aus der Vogelperspektive, sondern aus der Nahsicht. Aus dem "Einheitsbrei" der Forschungsliteratur, die die DDR-Presse als eintönig und langweilig darstelle, soll sie herausgehoben werden. Eine "Biografie" ist intendiert, was die Ansprüche an die Gestaltung angeblich besonders hochschraubt. Dazu wird eine Gliederung in vier Kapiteln gewählt. Das erste beschäftigt sich mit den "Lenkern", also mit denen, die für die Zeitung im Staats- und Parteiapparat zuständig waren. Denn bei der "Jungen Welt" handelte es sich um ein Organ des Zentralrats der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Das zweite Kapitel ist den "Machern" gewidmet, also den Journalistinnen und Journalisten. Im dritten Kapitel geht es um die Zeitung selbst, ihre Inhalte und Aufmachung, was ohne Einbeziehung der Macher natürlich nicht möglich ist. Und das vierte Kapitel wendet sich den Lesern und Leserinnen zu. Prolog und Epilog rahmen die vier Kapitel ein, zwischen denen es unvermeidliche Überschneidungen gibt. Da 190 Seiten Text aber offenbar nicht genug waren, folgen weitere knapp 80 Seiten, auf denen die Geschichte der Zeitung noch einmal chronologisch anhand hunderter von Daten ausgebreitet wird.
Die Autoren schöpfen in ihrem Buch außer aus der Sekundärliteratur im Wesentlichen aus vier Quellen: den Akten der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, einer ganzen Reihe von Zeitzeugen-Interviews (Gesamtliste fehlt!) sowie einer quantitativen Inhaltsanalyse, deren Gesamtergebnisse aber in einem anderen Buch dargestellt sind. Darüber hinaus wird viel aus der Zeitung selbst zitiert. Anhand der Akten wird vor allem die Lenkung der Zeitung durch den Machtapparat der DDR rekonstruiert. Allerdings geschieht das erst, nachdem Gunter Holzweißig, der verdienstvolle DDR-Forscher, ordentlich zurechtgewiesen worden ist. Auch beharren die Autoren auf der Übernahme des PR-Begriffs für die DDR, wogegen der Rezensent schon an anderer Stelle argumentiert hat. Immerhin wird dieser kritische Einwand in den Fußnoten nachgewiesen. Systematisch ist schon dieses Kapitel nicht, die Darstellung schweift eher hin und her.
Das Kapitel über die "Macher" basiert vor allem auf Interviews mit den zahlreichen ehemaligen Journalistinnen und Journalisten der "Jungen Welt". Wie systematisch aus diesen Interviews zitiert wird, weiß man ebenfalls nicht. Es ist naheliegend, dass die Interviews die Sichtweisen der betreffenden Personen reflektieren und also überwiegend eine Mischung aus Rechtfertigungen, Enttäuschungen und Zugeständnissen bieten. Das überrascht nicht und ist Teil der schon vielfach belegten Bewältigungsstrategien, wie sie nach 1990 zu beobachten waren. Manches lassen die Autoren einfach stehen, in anderen Fällen aber gehen sie durchaus kritisch mit den Aussagen ihrer Interviewpartner um oder weisen auf Widersprüche etwa zur Aktenlage hin. Eher relativierend wird beispielsweise konstatiert, dass "23 von unseren 203 Redakteuren [...] für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet haben" und von diesen längst nicht alle Details aus der Redaktion berichtet haben (85).
In dem umfangreichsten Kapitel des Buches steht die Zeitung selbst im Mittelpunkt. Dem unsystematischen Duktus entsprechend, wird ein "Einstieg von hinten" gewählt: So sei am 1. Oktober 1987 auf der letzten Seite der "Jungen Welt", der Sport-Seite, ein zensurbedingter "weißer Fleck" stehen geblieben. Der Sport gehörte für die junge Leserschaft zu den wichtigsten, von der Redaktion besonders gepflegten Teilen. Beliebt war ferner die Seite "Unter vier Augen", in denen Jugendliche in Beziehungsfragen beraten wurden. Man erfährt, wie umstritten das war und welche internen Diskussionen darüber geführt wurden. Auseinandersetzungen um die Inhalte waren an der Tagesordnung, im Blatt selbst aber regierte die öde FDJ-Verbandspolitik.
Zur auflagenstärksten Tageszeitung der DDR wurde die "Junge Welt" erst Mitte der 1960er Jahre. In den ersten anderthalb Jahrzehnten nach 1949 war die Zeitung ein "Nischenblatt" (173). Einen rapiden Anstieg der Auflage gab es erst seit Ende der 1960er Jahre. Angesichts des notorischen Papiermangels in der DDR ist dies erklärungsbedürftig. Der Streit ums Papier hinter den Kulissen wird ebenso belegt, wie die politische Absicht, die Jugend für sich zu gewinnen. Hier werden auch Studien der empirischen Medienforschung ausgewertet, für deren Befunde nach Auskunft von Hans-Jörg Stiehler, heute Kommunikationswissenschaftler an der Universität Leipzig, kein wirkliches Interesse vorhanden war: "Die Abteilung Agitation mochte uns nicht." (180) Mit zum interessantesten gehören die Ausführungen über die Leserpost, weil daraus noch einmal nachvollziehbar wird, unter welchem Druck das individuelle und gesellschaftliche Leben in der DDR stand.
Zur streng wissenschaftlichen Literatur gehört das Buch von Meyen und Fiedler eher nicht. Relevante Fakten sind über das Buch verstreut, die reportagehafte Einkleidung ist unnötig, manches bleibt spekulativ oder wird insinuiert, die nicht seltenen Bewertungen wünschte man sich gern begründet. Das Buch ist mit zahlreichen Fotos und Abbildungen anschaulich illustriert. Bemerkenswert ist, wie viele Fotos lachende Menschen zeigen. Irgendwie muss es in der DDR lustig gewesen sein, was den Autoren zumindest in einem Fall selbst aufgefallen ist. Man könnte sich so an das inzwischen viel gehörte Diktum erinnert fühlen: "Alles nicht so schlimm gewesen!".
Jürgen Wilke