Volker Ullrich: Adolf Hitler. Die Jahre des Aufstiegs, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2013, 1088 S., 69 s/w-Abb., ISBN 978-3-10-086005-7, EUR 28,00
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Wer sich heutzutage an eine große Hitler-Biografie wagt, verdient schon wegen der gewaltigen Menge an Quellen und Literatur, die es zu bewältigen gilt, Respekt. Allein seit dem Erscheinen von Ian Kershaws monumentaler Hitler-Biografie im Jahr 1998 ist ein kaum überschaubarer Wald von Beiträgen entstanden, durch den man sinnvolle Schneisen schlagen muss, will man sich nicht darin verlaufen. Dass es dabei trotz jahrzehntelanger intensiver Hitler-Forschung erstaunlicherweise immer wieder Neues zu entdecken gibt, beweisen etwa Othmar Plöckingers grundlegende Studien zu Hitlers "Mein Kampf" und zu den prägenden Jahren des späteren Diktators im deutschen Militär 1918-1920 oder Thomas Webers Arbeit über Hitlers Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg. [1]
Volker Ullrich hat sich indes nicht nur auf die Auswertung der Literatur beschränkt, sondern immer wieder Archivmaterial herangezogen, beispielsweise die im Schweizerischen Bundesarchiv Bern aufbewahrten Briefe von Rudolf Heß und zahlreiche Nachlässe, die sich in deutschen Archiven befinden. Durch diese Grundlagenforschung kann Ullrich noch einige neue Bausteine in das Mosaik des Hitlerbildes einfügen, das die bisherige Forschung erstellt hat. So hat Ullrich einen bislang nicht beachteten, aber höchst aufschlussreichen Brief Heinrich Heims im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde entdeckt. Heim besuchte als Jurastudent im August 1920 Hitler in München. Der damalige "Trommler" der NSDAP äußerte gegenüber dem jungen Studenten schon damals, man müsse die Juden "ausrotten", denn es gehe "um Sein oder Nichtsein" des deutschen Volkes. (123)
Dass Ullrich bei der Darstellung von 50 Lebensjahren des Diktators in einem Band von knapp 840 Textseiten zwangsläufig stark gewichten musste, ist selbstverständlich. Schwerpunkte hat er bei der Vorbereitung des Hitler-Putsches 1923, dem "Poker um die Macht" 1930 bis 1932, dem Antisemitismus und der Rassengesetzgebung 1935, den Olympischen Spielen 1936, der Außenpolitik der Jahre 1936-1939, der Blomberg-Fritsch-Krise 1938 und Hitlers Leben auf dem Obersalzberg gesetzt. Bei letzterem Punkt hat Ullrich allerdings eine gute Vorarbeit übersehen, weil er nicht die aktuellste Ausgabe des vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen Bands "Die tödliche Utopie" benutzt hat. [2]
Manches wichtige Kapitel aus Hitlers Leben bleibt insgesamt unterbelichtet, vor allem seine Jugendzeit. Zwar ist die Quellenlage zu Hitlers Leben vor dem Ersten Weltkrieg dürftig, doch einige bereits von der Forschung sehr gut herausgearbeitete Fakten hätten ausführlicher geschildert werden können, etwa der politische Einfluss, den Hitlers Lieblingslehrer in Linz, Leopold Pötsch, ausübte, oder die Zeit in Wien. Warum Hitler beispielsweise seinen Umzug von Wien nach München 1913 in "Mein Kampf" absichtlich ein Jahr vordatierte, bleibt gänzlich unerwähnt. Stattdessen zieht Ullrich erstaunlicherweise immer wieder recht unkritisch die Selbstzeugnisse Hitlers aus "Mein Kampf" als Quelle für biografische Fakten heran.
Auch bei der Schilderung von Hitlers Aufstieg in den 1920er Jahren stützt sich Ullrich mitunter gern auf Quellen, denen der Historiker mit größerer Distanz begegnen sollte. Dies gilt vor allem für die Memoiren von Ernst Hanfstaengl, aus denen Ullrich immer wieder ausführlich zitiert. Dabei sind die prätentiösen (Selbst-)Darstellungen Hanfstaengls, der später bei Hitler in Ungnade fiel und allen Grund hatte, seinem früheren "Führer" zu grollen, alles andere als zuverlässig, was Ullrich an einer Stelle schließlich selbst vermerkt. (300) In seinen Schwerpunktkapiteln, etwa zum Hitler-Putsch und zu den Ränkespielen vor der "Machtergreifung", besticht Ullrichs Darstellung hingegen durch akribisch ausgewertete, gute Quellen, was die entsprechenden Passagen zu einem Lesevergnügen macht.
Gleich anderen Hitler-Biografen hat auch Ullrich immer wieder psychologische Wertungen in die Beschreibung der Persönlichkeit Hitlers einfließen lassen. [3] Solche Versuche sollten jedoch entsprechenden Fachleuten überlassen werden, die über das nötige Wissen und methodische Rüstzeug verfügen. Wohlweislich hat Ian Kershaw sich hierbei zurückgehalten - und gut daran getan. Psychologische Mutmaßungen wie etwa die Behauptung, große Teile des deutschen Volkes hätten eine "libidinöse Bindung" an Hitler gehabt, dürfen zwar geäußert, müssen aber unbedingt erläutert und belegt werden.
Worin denn nun überhaupt die gewaltige Faszination Hitlers lag, der nicht nur Massen gläubiger Anhänger, sondern auch Skeptiker und sogar politische Gegner durch seine Reden begeistern konnte, bleibt in Ullrichs Darstellung vage. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Ullrich als Kronzeugen mit Vorliebe die bekannten Gegner Hitlers zu Wort kommen lässt, etwa Harry Graf Kessler, Victor Klemperer, Thomas Mann und William L. Shirer. Durch deren Aussagen wird jedoch kaum deutlich, wie beinahe ein ganzes Volk innerhalb weniger Jahre zu einer Verehrung des "Führers" gelangen konnte, die dem Nachgeborenen unverständlich erscheint.
Zusammenfassend sei festgehalten, dass Ullrich eine lesenswerte Studie auf bemerkenswert breiter Quellengrundlage vorgelegt hat, die den Forschungsstand der letzten Jahre gut widerspiegelt und sogar einige neue Forschungsergebnisse liefert. Allerdings bleibt beim Leser auch nach der Lektüre dieser Hitler-Biografie die Frage bestehen: Wie konnten die Deutschen nur diesem Mann folgen? Ullrichs Arbeit gibt leider keine völlig überzeugende Antwort darauf.
Anmerkungen:
[1] Othmar Plöckinger: Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers "Mein Kampf", 1922-1945, München 2006; Thomas Weber: Hitlers erster Krieg. Der Gefreite Hitler im Weltkrieg - Mythos und Wahrheit, Berlin 2011; Othmar Plöckinger: Unter Soldaten und Agitatoren. Hitlers prägende Jahre im deutschen Militär 1918-1920, Paderborn 2013.
[2] Albert A. Feiber: "Filiale von Berlin". Der Obersalzberg im Dritten Reich, in: Die tödliche Utopie. Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum Dritten Reich, hgg. von Volker Dahm / Albert A. Feiber / Hartmut Mehringer / Horst Möller, 6. Auflage, München 2011, 53-187.
[3] Für eine Einschätzung der bisherigen großen Hitler-Biografien (einschließlich der vorliegenden Studie) aus psychologischer Sicht danke ich Prof. Dr. Klaus Weber-Teuber, München.
Roman Töppel