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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Franco Morenzoni (ed.): Guillelmi Alverni: Opera homiletica, Tomvs I-IV (Rezension), in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/06/23447.html


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Franco Morenzoni (ed.): Guillelmi Alverni: Opera homiletica, Tomvs I-IV

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Guillaume d'Auvergne gehörte in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Frankreichs. Als Bischof von Paris - er amtierte von 1228 bis zu seinem Tode 1249 - kümmerte er sich nicht nur um kirchenpolitische Streitfragen, sondern wurde von Ludwig IX. in die Administration des Königreichs eingebunden. Wie eng das Vertrauensverhältnis war, das Bischof und König miteinander verband, kann (wie viele andere Details aus dem Leben und Wirken Guillaumes) auf der Grundlage der aktuellen Forschung derzeit noch nicht abschließend bewertet werden. Klar ist jedoch: Die Bedeutung des Pariser Bischofs ist bisher noch nicht ausreichend gewürdigt worden. [1] So ist Guillaume d'Auvergne heute auch weniger als (Macht-)Politiker denn als scholastischer Philosoph bekannt, dessen kritische und ausgesprochen produktive Auseinandersetzung mit Aristoteles sich in nahezu als 30 philosophisch-theologischen Werken niederschlug. Dass die meisten dieser Werke nach wie vor in Frühdrucken des 17. Jahrhunderts zu benutzen sind, sei nur am Rande erwähnt. Noch sehr viel weniger weiß man über sein pastorales Engagement, zu dem an vorderster Stelle die Predigt gehörte. Guillaume predigte ausgesprochen viel und gut - seiner bischöflichen Amtspflicht, dem officium praedicationis, kam er augenscheinlich nach.

Nun ist Franco Morenzoni, dem insbesondere die Predigtforschung bereits viele wegweisende Editionen verdankt [2], nicht der erste, der die Bedeutung des Predigtcorpus Guillaumes erkannte. Letztendlich war es der Dominikaner Louis-Jacques Bataillon († 2009), Nestor der internationalen Predigtforschung, der nichts unversucht ließ, um auf die Qualität des Guillaumschen Predigtœuvres aufmerksam zu machen und mögliche Editoren zu gewinnen. Dass sich Morenzoni auf dieses Unternehmen einließ, muss wohl als Glücksfall bezeichnet werden. Innerhalb von vier Jahren konnten vier umfangreiche Bände erscheinen, in denen das gesamte derzeit bekannte Predigtwerk kritisch ediert wurde. Bereits 2007 hatte Morenzoni in einem vorbereitenden Artikel aufgrund differenzierter Sprachanalysen gezeigt, dass allein 30 der von Johann-Baptist Schneyer in seinem "Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters" noch Guillaume zugeschriebenen Predigten wohl von anderer Hand verfasst worden sein mussten. [3] Gleichzeitig entdeckte er in einer Predigtsammlung des Robert de Sorbon 16 bisher von Schneyer nicht erfasste Predigten. Weiteres Material fand sich in bislang noch nicht berücksichtigten Handschriften der Bibliothèque nationale de France und der Bibliothèque Royale in Brüssel.

557 Sermones lassen sich derzeit Guillaume d'Auvergne zuschreiben. Sie zerfallen in drei große Gruppen: die Sermones de tempore umfassen 324, die Sermones de sanctis 120 und die Sermones de communi sanctorum et de occasionibus 113 Stücke. Bisher lagen im Druck lediglich 20 dieser Predigten vor. Eine Sammlung seiner eigenen Sermones hat Guillaume wohl niemals selbst angestrebt: dazu präsentiert sich das überlieferte Corpus allzu heterogen. Diese Heterogenität innerhalb der Überlieferung macht Guillaume andererseits für die Predigtforschung so wertvoll: Nur wenige Sermones liegen in (definitiv) ausgearbeiteter Form vor, für die meisten gilt, dass man sie als "inachevé" (xvii) charakterisieren sollte, wobei wiederum unterschiedliche Grade des "Unvollendeten" zu beobachten sind. Bei Predigten, in denen textimmanente Hinweise der Art "et narra de, et adapta de, et ad hunc modum de aliis, et ad hunc modum negociare, et ad hunc modum prosequere..." vorherrschen, kann man wohl von persönlichen Notizen des Predigers ante actum ausgehen. Mitunter reduziert sich der Text jedoch auf eine schlichte Aneinanderreihung von Ideen oder biblischen Autoritäten: ausgehend von dieser Gedächtnisstütze dürfte die jeweilige Predigt gehalten worden sein. Resümierende Mitschriften der Zuhörer, die sogenannten reportationes, sind ebenfalls überliefert. Mindestens fünf Sermones, bei denen unter Verzicht auf das Prothema lediglich die Struktur der Predigt skizziert wurde, liegen in dieser Gestalt vor. Das Gros der Predigten ist unikal, 19 Sermones sind in zwei unterschiedlichen, drei weitere gar in drei unterschiedlichen Versionen überliefert.

Eine genaue Datierung ist zumeist nicht möglich. Annäherungswerte liefern textimmanente Verweise auf zeitgenössische Ereignisse: der Großteil dürfte wohl aus der Zeit von Guillaumes Episkopat stammen. Wo der Pariser Bischof predigte, bleibt zumeist ebenfalls im Dunkeln. Seltene Marginalglossen - Predigt CXIII verweist durch ein in capitulo Predicatorum und eine Datierung auf den 21. Mai 1241 auf den Pariser Dominikanerkonvent S. Jacques -, erlauben eine ungefähre Lokalisierung zumeist in der Stadt Paris selbst. Der Aufbau der Predigten ist in den meisten Fällen schlicht - Guillaume zeigt sich recht unbeeindruckt von dem, was zeitgenössische Predigtlehren an elaborierten Konstruktionsvorschlägen unterbreiten. Charakteristisch ist die gehäufte Verwendung von similitudines, mittels derer auf einen gemeinsamen, durch Erfahrung erworbenen Wissensbestand von Prediger und Zuhörern rekurriert wird. Sie sind letztendlich für den "ton familier" (I, xxviii) vieler Predigten verantwortlich. Exempla tauchen ebenfalls sporadisch auf, dienen jedoch weniger der moralischen Unterweisung als der bloßen delectatio der Zuhörer - in vielen Fällen ist dabei unklar, woher sie stammen. In den großen zeitgenössischen Exempelsammlungen finden sie sich jedenfalls nicht. Hinweise auf literarische Werke in der Volkssprache finden sich ebenfalls - Zitate aus dem Roman de Renart, dem Jeu de Robin et Marion oder dem Voyage de Charlemagne sind nachweisbar. Die Nennung von auctoritates erfolgt bei Guillaume sehr viel seltener als bei seinen Zeitgenossen: Augustinus findet sich an der Spitze, abgeschlagen folgen die anderen Kirchenväter. An heidnischen Philosophen finden Seneca und Cicero, an Zeitgenossen Bernhard von Clairvaux Erwähnung.

Vorliegende Edition beruht vornehmlich auf sechs umfangeichen Handschriften, die im 1338 verfassten Katalog der Bibliothek des Collège de Sorbonne als "Summa sermonum" bezeichnet werden und auf Robert de Sorbon zurückgehen. Weitere Handschriften zumeist mit Streuüberlieferung wurden zusätzlich konsultiert. In Band I und II finden sich 324 Predigten des de tempore-Zyklus, beginnend mit dem Ersten Advent. Band III (auf dem Buchrücken fälschlich Band II!) enthält Heiligenpredigten (de sanctis), Band IV diejenigen de communi sanctorum et de occasionibus. Die Textqualität, mit der sich der Editor in vielen Fällen konfrontiert sah, lässt zu wünschen übrig. Die Kopisten hatten mitunter ganz offensichtlich Mühe, den Sinn des von ihnen Kopierten zu verstehen. Die Syntax präsentiert sich ebenfalls häufiger "approximativ": Grund hierfür ist wohl die Beeinflussung des Lateinischen durch die französische Volkssprache. Die Sermones können ihre Herkunft aus dem frankophonen Raum nicht verleugnen. Die meisten der im Text eingestreuten mittelfranzösischen Begriffe und Redewendungen sind zwar über die gängigen Spezialwörterbücher zu ermitteln, doch bleibt ein kleiner Rest, der Guillaumsches Eigengut transportiert. Hier ist die Interpretation sehr viel schwieriger - und dem Herausgeber, der bewusst auf ein Glossar "schwieriger Wörter" verzichtet, ist darin zuzustimmen, dass allein dieser Wortbestand eine eigene Untersuchung verdient hätte (vgl. IV, 403).

Die Eingriffe des Editors in den Text - auf die zumeist unikale Überlieferungssituation wurde bereits verwiesen - beschränken sich auf ein Minimum, auch wenn dadurch das Textverständnis nicht in allen Fällen befördert wird. Die Orthografie der Handschrift wird respektiert, Ausnahmen kommen mit Blick auf Konsonantenverdoppelungen jedoch vor. Um beispielsweise Verwechslungen mit dem Adjektiv "imus, a, um" vorzubeugen, wird das in der Handschrift häufig vorkommende "imo" in "immo" korigiert. Einflüsse der Aussprache des Lateinischen im Paris des 13. Jahrhunderts auf die grafische Gestalt der Handschrift werden ebenfalls korrigiert: "c" wird in "s" (cereno/sereno; cincero/sincero) oder "ss" in "sc" (oblivissi/oblivisci) verändert. Sämtliche Eingriffe werden im Apparat dokumentiert. Wie bei den in der Reihe des "Corpus christianorum" erscheinenden Editionen üblich, wird dabei mit drei Apparaten gearbeitet: neben dem Bibel- und Quellen- findet sich ein Variantenapparat. Die Ordnung der sermones folgt bis auf wenige Ausnahmen derjenigen bei Robert de Sorbon. Existieren mehrere Versionen ein und derselben Predigt, wird zunächst die Langversion, dann die Kurzversion(en) angeführt. Loci paralleli zwischen den Predigten und den theologischen Traktaten des Pariser Bischofs sind ausgesprochen zahlreich: im Apparat finden sich freilich nur die wichtigsten dokumentiert.

Welche Informationen aus Guillaumes Predigten könnten für Historiker von Interesse sein? Wenig überraschend wird die Thematik moralischer Verfehlungen durch den Klerus an einigen Stellen explizit erwähnt (z.B. I, sermo 63) - und auch mangelnde Bereitschaft zur Predigt gehört für Guillaume in diesen Bereich (z.B. IV, sermo 110). Auch die Härten der sozialen Existenz finden sich thematisiert: die Gier der Mächtigen wird dabei ebenso gegeißelt wie deren Grausamkeit bei der Rechtssprechung oder ihre Korrumpierbarkeit. Dem Thema der Konversion von Prostituierten kommt besondere Bedeutung zu, war es doch Guillaume, der zusammen mit Ludwig IX. das "Hôpital des Filles-Dieu" für gefallene Mädchen gründete.

Für die philologische Qualität der Edition spricht eine Errata-Liste, die sich in Band IV findet und auf einer knappen halben Seite lediglich 21 Fehler auflistet. Die mehr als 200 Seiten umfassenden Indices (Index locorum S. Scripturae und Index fontium) am Ende von Band IV erschließen das Predigtœuvre zuverlässig, wenn auch nicht ganz erschöpfend. Ein Index initiorum fehlt ebenso wie ein Index nominum. Letzterer hätte einen problemlosen Zugriff beispielsweise auf das Vorkommen einzelner Heiliger ermöglicht und damit Forschungen zur Hagiografie im 13. Jahrhundert erleichtert. Zwei weitere Dinge hätten die Benutzerfreundlichkeit zusätzlich gesteigert: die Einleitung in Band I ist (wie so häufig bei Editionen des "Corpus Christianorum") mit nur 40 Seiten sehr knapp gehalten - insbesondere zu den Inhalten der Predigten hätte man sich konzisere Ausführungen gewünscht. Und weshalb man zu Beginn der einzelnen Predigten auf die Nennung des liturgischen Anlasses verzichtet hat, erschließt sich nicht. Sicher - in den Handschriften vermisst man zumeist Rubriken, die mit klaren Verweisen auf das jeweilige Fest bzw. den Sonntag, an dem gepredigt wurde, aufwarten. Allerdings liefert der Editor in Band I (XLVIII-LXVIII) eine solche Liste. Vor jeder Predigtlektüre ist man also zur besseren Orientierung gezwungen, auf den ersten Band zurückzugreifen. Das ist umständlich und hätte vermieden werden können.

Es bleibt aber festzuhalten, dass es sich angesichts der brillanten editorischen Leistung hier um Quisquilien handelt, die den Wert der eigentlichen Predigtedition in keiner Weise schmälern. Morenzoni hat es vorgemacht: die Edition umfangreicher Textcorpora eines Autors ist in vergleichsweise kurzer Zeit zu leisten. Die Qualität der Edition muss dabei nicht leiden. Es bleibt zu wünschen, dass Nachahmer gefunden werden, die sich des z.T. immensen Œuvres weiterer Prediger (vornehmlich des späteren Mittelalters) annehmen. Die historische Forschung kann von Texten aus der Feder (bzw. aus dem Munde) eines Eudes de Châteauroux, eines Guillaume de Tournai oder eines Guillaume de Sauqueville nur profitieren. Ihr obliegt es nun, die kritisch edierten Quellentexte zum Sprechen zu bringen. Morenzoni ist für seine Grundlagenarbeit nicht genug zu loben - und vielleicht trägt seine maßstabsetzende Edition der Predigten des Guillaume d'Auvergne dazu bei, vom Nutzen weiterer editorischer Grundlagenarbeit zu überzeugen.


Anmerkungen:

[1] Die bislang einzige Monografie stammt von 1880, vgl. Noël Valois: Guillaume d'Auvergne évêque de Paris (1228-1249). Sa vie et ses ouvrages, Paris 1880. Einen aktuelleren Kenntnisstand vermittelt der Sammelband Franco Morenzoni / Jean-Yves Tilliette (Hgg.): Autour de Guillaume d'Auvergne, Turnhout 2005.

[2] Vgl. hier nur Thomas of Chobham: Sermones, cura et studio Franco Morenzoni (CCCM 82A), Turnhout 1993.

[3] Franco Morenzoni: L'œuvre homilétique de Guillaume d'Auvergne, évêque de Paris, in: Sacris Erudiri 46 (2007), 1-83.

Ralf Lützelschwab