Rezension über:

Anna-Maria Götz: Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer um 1900, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 418 S., 346 Farbabb., ISBN 978-3-412-21028-1, EUR 59,90
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Rezension von:
Claudia Denk
München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Denk: Rezension von: Anna-Maria Götz: Die Trauernde. Weibliche Grabplastik und bürgerliche Trauer um 1900, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 6 [15.06.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/06/23471.html


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Anna-Maria Götz: Die Trauernde

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Mit dem Motiv der Trauernden ist im 19. Jahrhundert die Emergenz eines neuen Themas in der Ikonografie des Todes zu verbinden. Im bürgerlichen Zeitalter sollte sich eine neue Trauerkultur entwickeln, die Philippe Ariès unter dem Begriff "Der Tod des Anderen" subsumiert. Parallel zum Entstehen der romantischen Liebe konstatiert der große französische Sozialhistoriker das Aufkommen des "romantischen Tods" und kennzeichnet damit einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel: Der Tod wurde nun als Ende des irdischen Lebens verstanden und der Jenseits- vom Diesseitsgedanken abgelöst. In den Vordergrund rückte anstelle der Angst vor dem eigenen Tod (und dem zu befürchtenden Fegefeuer bzw. den Höllenqualen) die stark emotionsgetragene Angst vor dem Tod des geliebten Menschen. [1] Ausgehend davon versteht Anna-Maria Götz in ihrem Buch zur weiblichen Grabplastik und bürgerlichen Trauer um 1900 das Motiv der Trauernden zutreffend als emotionalisierte Übergangsfigur zwischen der Welt der Hinterbliebenen und den Verstorbenen.

Die Autorin hat mit der bürgerlichen Sepulkralkultur des 19. Jahrhunderts einen Themenbereich gewählt, der bislang durchaus nicht zum Forschungskanon der Kulturwissenschaften zählt. Während die Sepulkralkultur seit jeher im Bereich der Kunstgeschichte des Mittelalters, der Renaissance und des Barocks zu den zentralen Forschungsgebieten zählt, führt die des 19. Jahrhunderts - von Vorurteilen gegenüber ihrer Opulenz und Vordergründigkeit geprägt - noch immer ein Schattendasein. Für die Kunstgeschichte hat Bernhard Maaz als einer der ersten mit seinem wichtigen Buch zur deutschen Skulptur des 19. Jahrhunderts der Sepulkralkunst eine gleichberechtigte Position neben den anderen Gattungen eingeräumt. [2] Götz gelingt es, mit der Figur der Trauernden dem hinsichtlich eines bürgerlichen Selbstverständnisses wichtigen 19. Jahrhundert ein zentrales Medium der Identitätsbildung hinzuzufügen. Hierzu verfolgt die Autorin einen diskursanalytischen Zugang. Ganz grundsätzlich versteht sie die weibliche Grabplastik als repräsentierendes Zeichen, das es vor den unterschiedlichen Diskursen zum Geschlechterverhältnis, zur Moral und Medizin, zum Glauben und zu Vorstellungen vom Jenseits zu untersuchen gilt. Verdienstvollerweise greift ihre Untersuchung auf eine äußerst breite Materialbasis (Plastiken, Reliefs etc.) zurück und nähert sich dieser mithilfe zeitgenössischer Quellen (Friedhofsordnungen, Verkaufskataloge, Tagebucheinträge, Briefe usw.).

In ihrem zweiten umfangreichen Kapitel stellt die Autorin wichtige europäische Hauptfriedhöfe vom Ohlsdorfer Friedhof in Hamburg über den Pariser Cimetière du Père Lachaise, den Wiener Zentralfriedhof bis hin zu den Friedhöfen Münchens und dem Genueser Cimitero di Staglieno vor. Anhand dieser großen Anlagen, die sich konzeptuell vom Parkfriedhof über architektonisch gestaltete Anlagen bis hin zum Waldfriedhof erstrecken, erschließt sie die räumlichen Kontexte der Skulpturen. Die "Trauernden" bevölkerten, so ihr Fazit, europaweit, über nationale Grenzen weit hinaus, die unterschiedlichsten Friedhofstypen. Denn trotz aller Unterschiede fanden sie überall ähnliche Bedingungen in den lang laufenden Familiengräbern vor, die auch in den bürgerlichen Schichten die Massengräber ablösten. Auf diese Weise entstanden neue, individuelle und zugleich öffentliche Stätten zur Verwirklichung bürgerlicher Repräsentationswünsche. Mit einem fokussierenden Blick nähert sich das dritte Kapitel den ikonografischen Wurzeln und erstellt somit eine kleine Typologie der Trauernden. Bildverwandtschaften zu christlichen Marienfiguren, mythologischen Göttinnen und profanen Weiblichkeitsbildern wie Mutter Natur und aufopfernde Liebe bereicherten das Spektrum des Motivs auf der semantischen Ebene, ohne freilich noch im engeren Sinne "ikonografisch" zu funktionieren.

Ihr viertes Kapitel bildet aufgrund des weitgespannten mentalitätshistorischen Spektrums das eigentliche Herzstück ihrer Untersuchung mit dem größten Erkenntnisgewinn. Aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln nähert sich die Autorin ihrem Forschungsgegenstand: Aus der Perspektive der Auftraggeber und Memorierten werden die mit dem Motiv verbundenen Intentionen analysiert. Sie geht der wichtigen Frage der Öffentlichkeit dieser neuen Erinnerungsorte nach und der damit verbundenen neuen Wirkkraft der Grabskulpturen. Sie versteht die Friedhöfe zutreffend als öffentliche Inszenierungsräume, in denen sich der Denkmalkult des 19. Jahrhunderts auch im Grabmal entfalten konnte. Besonders erhellend sind ihre Feststellungen zum Material. Hier unterscheidet sie zwischen der physischen Beschaffenheit (den verschiedenen Gesteinssorten und ihrer Dauerhaftigkeit), dem ökonomischen Wert der Materialien und ihrer soziokulturellen Codierung, d.h. welche Distinktionswünsche mit dem Materialien verbunden waren. [3]

Für zukünftige Forschungen erscheint gerade die weitere Auslotung produktionsästhetischer Fragestellungen lohnenswert, etwa die bislang kaum thematisierte Frage nach den Künstlern und der auch im bürgerlichen Zeitalter wichtigen Funktion individueller Künstlerentwürfe als Medium sozialer Abgrenzung. Noch wenig bekannt ist, dass Künstler von erstem Rang das Sepulkralschaffen dieser Zeit prägten, gerade auch in Konkurrenz zum handwerklichen Metier der Steinmetzen. Aus dieser Sicht sei auch darauf verwiesen, dass die Wahl einer Trauernden aus einem WMF-Katalog (1919) für den Umschlag des Buchs dem Vorurteil weiter Vorschub leisten könnte, die bürgerliche Sepulkralkultur ließe sich auf die serielle Produktion reduzieren. Die wirtschaftsbürgerlichen, von besonders großen Dynamiken geprägten Karrieren waren oft nicht nur mit einem schnellen Aufstieg verbunden, sondern reziprok dazu mit einem nicht weniger schnellen Abstieg. Je wechselvoller die Karrieren waren, desto größer scheint die Hoffnung auf eine stabile Memoria gewesen zu sein. Für eine solche bürgte neben haltbaren Materialien gerade auch der "Kunstwert", denn dieser garantierte oftmals das Bestehen kostbarer Grabmäler über den Ablauf der Ruhefristen hinaus. Wie wichtig die Stabilität im Totengedenken war, bezeugt etwa für die Sepulkralkunst Münchens in der Prinzregentenzeit die scharfsichtige Analyse des Literaten und Mitarbeiters des "Simplicissimus" Josef Ruederer in seiner überaus lesenswerten Novelle "Das Grab des Herrn Schefbeck" (1909). [4]

Anna-Maria Götz hat unzweifelhaft mit ihrer weitgreifenden Arbeit, die u.a. bei Norbert Fischer in Hamburg, einem der profiliertesten Forscher auf dem Gebiet der Sepulkralkultur des 19. Jahrhunderts entstanden ist, in vielen Aspekten Neuland betreten. Sie legt mit ihrer Doktorarbeit ein überaus inspirierendes Buch vor, dem eine breite Rezeption zu wünschen ist, nicht zuletzt damit das Sepulkralschaffen des langen 19. Jahrhunderts endlich seinen verdienten Platz in der zukünftigen Forschung erhält.


Anmerkungen:

[1] Philippe Ariès: Geschichte des Todes, München 1980, 519ff.

[2] Bernhard Maaz: Skulptur in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, 2 Bde, Berlin / München 2010.

[3] Monika Wagner: Materialien als soziale Oberflächen, in: Material in Kunst und Alltag, hgg. v. Monika Wagner / Dietmar Rübel, Berlin 2002, 101-118.

[4] Josef Ruederer: Das Grab des Herrn Schefbeck, in: Süddeutsche Monatshefte 6 (1909), Nr. 1.

Claudia Denk