Rezension über:

Yvette Deseyve / Birgit Kümmel / Bernhard Maaz (Hgg.): Kolloquium Skulptur. Auf dem Weg in die Gründerzeit, Arolsen: Museum Stadt Arolsen 2022, 220 S., 182 Farb-Abb., ISBN 978-3-930930-43-2, EUR 25,00
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Rezension von:
Claudia Denk
München
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Denk: Rezension von: Yvette Deseyve / Birgit Kümmel / Bernhard Maaz (Hgg.): Kolloquium Skulptur. Auf dem Weg in die Gründerzeit, Arolsen: Museum Stadt Arolsen 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 6 [15.06.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/06/37898.html


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Yvette Deseyve / Birgit Kümmel / Bernhard Maaz (Hgg.): Kolloquium Skulptur

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Aus Anlass des 20-jährigen Bestehens des Christian Daniel Rauch-Museums fand im Mai 2022 in Bad Arolsen ein Kolloquium zur "Skulptur: Auf dem Weg in die Gründerzeit" statt, das von Berlin, Bad Arolsen und München aus konzipiert und organisiert wurde und dessen Beiträge inzwischen als Tagungsband, herausgegeben von Yvette Deseyve, Birgit Kümmel und Bernhard Maaz, vorliegen. Der Band schließt sowohl konzeptionell wie auch in der Umschlaggestaltung an das zur Eröffnung des Museums ausgerichtete Kolloquium zur Skulptur des Klassizismus an. [1] Die Wahl des Ortes mit seinem Bestand vorzüglicher Bildwerke, der entsprechend dem Beitrag der Museumsleiterin Birgit Kümmel in den letzten beiden Jahrzehnten entscheidend bereichert werden konnte, erwies sich für den werknahen Ansatz der Tagung als programmatisch. Das bereits von den Zeitgenossen als denkmalwütig beschriebene Jahrhundert bot ein reiches Feld an Perspektiven, so dass jenseits des etablierten Kanons unmittelbar aus dem Material und der Anschauung abgeleitete Fragestellungen aufgeworfen werden konnten. Der Blick in den Band macht sofort evident, dass Stil- und Epochenbegriffe bis auf den Titel, der mit dem Schlagwort "Gründerzeit" eine zeitliche Orientierung liefert, ausgeklammert wurden und stattdessen anhand von Werkgruppen und Fallbeispielen vor allem Fragen zur Material- und Rezeptionsästhetik aufgeworfen wurden. Damit lässt sich der Band in den aktuellen 'material turn' einordnen, der etwa ähnlich den Kunsthistorikertag 2019 in Göttingen unter dem Motto "Zu den Dingen" prägte.

Man kann die hier versammelten Beiträge als ein kluges Hinterfragen des von Johann Joachim Winckelmann aufgestellten Postulats der "edlen Einfalt und stillen Größe" lesen, welches bekanntlich für die Skulptur des Klassizismus bis weit ins 19. Jahrhundert große Wirksamkeit entfaltete. Wie keine andere Gattung berief sich gerade die Skulptur sowohl in ihren formal-erzählerischen wie in ihren materialästhetischen Komponenten beharrlich auf die normierende Autorität der Antike. Demgegenüber befragte Bernhard Maaz in seinem einführenden Beitrag (es war der Abendvortrag) in entgegengesetzter Leserichtung, mit welchen Bildstrategien dieses Diktum früh konterkariert wurde, und macht dabei die Ironie als subversive Kraft aus, die sich angesichts des langen Schattens von Winckelmann überraschend reich in der deutschen (und europäischen) Skulptur entfaltete. Mit seiner Frage "Wie humorvoll war die deutsche Skulptur des 19. Jahrhunderts?" (23) und seiner Übersicht des reichen Materials, welches ihm als Autor des Standardwerks zur Skulptur des 19. Jahrhunderts zur Verfügung stand [2], betrat er Neuland, was die Formen plastischen Humors im bürgerlichen Zeitalter betrifft. Diesen bislang unbeachteten Strang in der deutschen Skulptur konnte er auch als Resultat eines fruchtbaren französisch-deutschen Kulturtransfers bestimmen.

Eine übergreifende, die zentralen Beiträge einende Perspektive richtet sich auf vorwiegend rezeptionsästhetische Aspekte, d.h. auf die Darstellungs- und Erlebnismöglichkeiten von Skulpturen in den Dimensionen von Raum und Zeit. Johannes Myssok geht am Beispiel von Antonio Canova, dem er seine Habilitationsschrift gewidmet hatte [3], dem neuen (Wechsel-)Verhältnis von Skulpturen und ihren Aufstellungsorten nach. Die neuen Idealskulpturen waren nicht mehr für einen Auftragszusammenhang und damit für einen vorbestimmten Ort geschaffen worden. Sie konstituierten neue Präsentationskontexte, die in manchen Fällen auf eine von Canova ursprünglich nicht beabsichtigte Wirkung zielten. Myssok kann zeigen, dass mit den "neuen Skulpturen, neue Räume" (71) geschaffen wurden, die etwa die vielbemühte "klassizistische Kälte" hinter sich ließen, um auf eine besonders gefühlsbasierte Rezeption zu setzten. Margrethe Floryan spürt anhand von Bertel Thorvaldsens ikonischer Christus-Statue in der Kopenhagener Frauenkirche, die immer wieder reproduziert wurde und die früh eine Musealisierung als Sehenswürdigkeit erfahren hat, deren ursprünglicher Funktion und Bedeutung in der liturgischen Praxis nach. Sie beleuchtet dabei mit Rückgriff auf überlieferte Interpretationen Søren Kierkegaards deren Potenzial, als gewissermaßen 'körperlich' anwesende Statue einen hoch wirksamen religiösen Raum zu schaffen. Hans Körner verlässt mit seiner Untersuchung des Reiterstandbilds die Kategorie des Raums zugunsten jener der Zeit. Er kann darstellen, wie entsprechend der Malerei auch in der Plastik der "historische Augenblick" als Vergegenwärtigungsmittel zentraler Aussagen Eingang fand, obwohl im Sinne Hegels das Momenthafte mit der Idealität der Skulptur zunächst als unvereinbar galt.

Eine Gruppe weiterer Beiträge widmet sich der für die Skulptur im 19. Jahrhundert so wichtig werdenden Materialästhetik und ihrer einerseits beharrenden, andererseits aber neue Wege eröffnenden Entwicklungen. Charlotte Schreiter beleuchtet die auch als Jahrhundert des Gipses bekannte Epoche aus der Perspektive der Reproduzierbarkeit. Den Gipsabgüssen kam in den aufkommenden Lehr-Institutionen, den Museen und Akademien, eine zentrale Rolle bei der Vergegenwärtigung der vorbildlichen (alten = antiken) Kunst zu. Gerade der weiße Gips verbürgte dabei idealtypisch das Festhalten am Weiß des Marmors im Sinne einer klassizistischen, an der Antike orientierten Ästhetik. Demgegenüber nimmt Yvette Deseyve die umgekehrte Blickrichtung ein: Sie wendet sich in ihrem Beitrag der polychromen Bildhauerei zu, die - gleichwohl Untersuchungen zu den diversen Polychromiedebatten im 19. Jahrhundert mittlerweile zu einer eigenen Forschungstradition führten - immer noch ein Randthema darstellt. Sie kann die damalige "Farbenblindheit" ("coulour-blindness" - 178) gegenüber der antiken buntfarbigen Skulptur wiederum als ein Resultat der /i>longue durée der schon erwähnten Winckelmann'schen Postulate ausmachen. Zugleich beleuchtet sie das neue Bestreben, die Gattung durch die polychrome Bildhauerei zu einer "wahrhaft populären Kunst" (Georg Treu - 186) zu machen. Jan Mende bereichert den materialästhetisch ausgerichteten Diskurs des Tagungsbandes schließlich durch den Fokus auf die aufkommenden, leicht verfügbaren und daher kostengünstigen Werkstoffe wie Terrakotta, Zink und Pappe, die den expandierenden Markt für seriell gefertigte Freiplastik zwischen 1840 und 1856 dominierten, wodurch diese billigen Materialien im Zeichen einer Demokratisierung der Kunst das klassische Referenzmaterial des Marmors radikal abzulösen begannen.

Neben Beiträgen zu einer Auslotung der bislang noch nicht geschriebenen Geschichte der Dresdner Bildhauerschule (Astrid Nielsen) und Motivtendenzen um 1900 (Bernd Ernsting) sowie Einzeluntersuchungen zu Johann Werner Henschels "Maria mit dem Kinde" (Michael Puls) und zu Walter Schotts Balusterfiguren am Neuen Palais im Park Sanssouci (Silke Kiesant) richtet Frank Matthias Kammel den Blick auf die Karrieremöglichkeiten eines Gießers im Zeitalter der "Denkmalwut" (Max Schasler, zit. im Beitrag von Hans Körner, 135). Jakob Daniel Burgschmiet gelang auf dem Feld der Erzgießerei nicht nur ein beispielloser Aufstieg jenseits von "Standesschranken und Standesdünkel" (110), sondern mit seiner Könnerschaft und seinem Künstlerruhm ging zugleich einher, dass sich seine Heimatstadt Nürnberg neben Berlin, München und Wien als viertes deutsches Zentrum des modernen künstlerischen Erzgusses etablieren konnte.

Mit neuen Ansätzen, die auch die veränderten Produktionsbedingungen und den vom Auftraggeber unabhängig werdenden Kunstmarkt in den Blick nehmen, beleuchtet der Tagungsband eine Gattung, die erneut erblühte, als das Bürgertum den Stadtraum und auch die Friedhöfe [4] als Denkmalorte eroberte und sich der Skulptur als Repräsentationsmedium bemächtigte. Demgegenüber steht die Skulptur dieser Zeit in der Wahrnehmung der kunsthistorischen Forschung immer noch zurück. Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass sich in dem nun zeitnah erschienenen Tagungsband ein ausgewiesener Kreis von Fachleuten aus der musealen und universitären Forschung - in wohltuender Objektnähe - mit reichen Ergebnissen den skulpturalen Entwicklungen des sogenannten 'Langen 19. Jahrhunderts' widmet.


Anmerkungen:

[1] Birgit Kümmel / Bernhard Maaz (Hrsg.): Kolloquium zur Skulptur des Klassizismus, Bad Arolsen 2004.

[2] Bernhard Maaz: Skulptur in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg, 2 Bde., Berlin / München 2010.

[3] Johannes Myssok / Antonio Canova: Die Erneuerung der klassischen Mythen in der Kunst um 1800, Petersberg 2007.

[4] Zu den Friedhöfen als Denkmalorte und Museen modernen Plastik im 19. Jahrhundert: Claudia Denk / John Ziesemer: Kunst und Memoria. Der Alte Südliche Friedhof in München, Berlin / München 2014.

Claudia Denk