Patrick Bredebach: Das richtige Europa schaffen. Europa als Konkurrenzthema zwischen Sozial- und Christdemokraten. Deutschland und Italien von 1945 bis 1963 im Vergleich (= Schriften zur politischen Kommunikation; Bd. 13), Göttingen: V&R unipress 2013, 423 S., ISBN 978-3-8471-0109-3, EUR 54,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Klaus Malettke: Hegemonie - multipolares System - Gleichgewicht. 1648/1659-1713/1714, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012
Michael Gehler: Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, Zusammenhalt, 3., komplett überarb. u. erheb. erw. Aufl., München: Olzog Verlag 2017
Klaus Schwabe: Jean Monnet. Frankreich, die Deutschen und die Einigung Europas, Baden-Baden: NOMOS 2016
John Watts: The Making of Polities. Europe, 1300-1500, Cambridge: Cambridge University Press 2009
Hartmut Kaelble: Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950, Frankfurt/M.: Campus 2019
Michael Gehler / Wilfried Loth (Hgg.): Reshaping Europe. Towards a Political, Economic and Monetary Union, 1984-1989, Baden-Baden: NOMOS 2020
Martin Kirsch / Anne G. Kosfeld / Pierangelo Schiera (Hgg.): Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich, Berlin: Duncker & Humblot 2002
Seit einigen Jahren schon spielen kulturwissenschaftlich fundierte Ansätze auch in der Historiographie zur europäischen Integration eine dominierende Rolle. Nicht mehr politische Entscheidungen oder gesellschaftlich-ökonomische Strukturen stehen verstärkt im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, sondern diskursiv erzeugte Bedeutungszuweisungen insbesondere in Bezug auf den Begriff "Europa". Vor allem der Wiener Historiker Wolfgang Schmale hat diesen Ansatz gewinnbringend in die Europa-Forschung eingeführt. Diesem Ansatz ist auch die Frankfurter Dissertation von Patrick Bredebach verpflichtet. Ihn interessieren drei miteinander verbundene Fragestellungen: Zum einen geht es darum zu zeigen, wie der Begriff "Europa" von den Parteien benutzt wurde. Zweitens fragt er, welche Bedeutungen dem Begriff "Europa" in den Parteidebatten zugewiesen wurden, und schließlich interessiert er sich dafür, wie diese diskursiven Konstruktionen des Europabegriffes in konkrete Politik umgesetzt wurden. Diese drei Fragestellungen werden zudem im deutsch-italienischen Vergleich untersucht.
Das Buch ist chronologisch aufgebaut. Die Zeit zwischen 1945 und 1963 wird in vier Abschnitten untersucht, die jeweils durch wichtige europäische Verträge abgegrenzt sind. Innerhalb dieser Kapitel wird zunächst die deutsche, dann die italienische Diskussion geschildert, bevor schließlich ein analytischer Abschnitt die Debatte und ihre Muster vergleicht. Das ist eine insgesamt sinnvolle Vorgehensweise, die auch konsequent durchgeführt wird. Besonders hervorzuheben ist die breite empirische Grundlage, auf der der Autor die Europa-Diskussionen schildert. Er hat nicht nur zum Teil entlegene zeitgenössische Publikationen fruchtbar einbezogen, sondern auch eine intensive Archivrecherche in beiden Ländern betrieben, so dass auch der Experte einige neue Quellen findet, die die bisherigen Kenntnisse über die Europa-Debatten in Deutschland und Italien durchaus erweitern.
Im Ergebnis identifiziert Bredebach in beiden Ländern drei verschiedene Bedeutungszuweisungen an den Begriff Europa, die, so betont er, nicht statisch waren. Erstens wurden dem Begriff bestimmte Werte zugewiesen. Europa sei in beiden Ländern vor allem in den 1940er und 1950er Jahren mehrheitlich als nicht nationalsozialistisch, nicht faschistisch definiert worden. "Europa" wurde daher in beiden Ländern als radikaler Bruch mit der unmittelbaren Vorgeschichte dargestellt. Das betraf sowohl das linke als auch das christdemokratische Spektrum der Parteienlandschaft. Zweitens, so Bredebach, reagierten die politischen Parteien mit dem Europa-Diskurs auf das nach 1945 neu formierte internationale Staatensystem. Europa wurde als Gegenbild zum Kommunismus sowjetischer Prägung und, vor allem ab Mitte der 1950er Jahre, auch als Sinnbild für die Unabhängigkeit von den Vereinigten Staaten gesehen. Die Parteien reagierten hierauf mit einer engeren transnationalen Kooperation im Rahmen ihrer politischen Familien, die Bredebach vor allem am Beispiel des Monnet-Komitees zeigt. Schließlich spielte der Europa-Begriff in konkreten Politikfeldern eine Rolle, in der Kohle- und Stahlpolitik, der Agrarpolitik und der Verteidigungspolitik. Auch wenn diese Ergebnisse durchaus überzeugend sind, hätte man auf der Basis der Untersuchung auch andere Europa-Diskurse thematisieren können. Der Europa-Begriff war schon immer umstritten und unklar. Europa, so scheint es nach der Lektüre dieser Arbeit, war immer mehr ein Begriff für vorgestellte Ideale als konkrete Realität.
Insgesamt hat Patrick Bredebach daher eine Arbeit vorgelegt, die, ohne überraschende Neuigkeiten zu präsentieren, doch die bestehenden Kenntnisse erweitert. Gleichwohl gibt es auch Monita: Zum einen wird in der Arbeit nicht klar, warum sich der Autor auf die Parteien als Akteure im Europa-Diskurs konzentriert. Er stützt seine Argumentation in starkem Maße auf einzelne Persönlichkeiten, in der Regel auf die Vorsitzenden und Präsidenten der jeweiligen Parteien. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass es in nahezu keinem Fall eine geschlossene Bedeutungszuweisung einer Partei für Europa gab. Innerhalb der Parteien wurde vielmehr ebenfalls um die Europa-Projektionen gestritten. So lassen sich zwar verschiedene Europa-Konstruktionen identifizieren, ihre Abgrenzung entsprach aber keineswegs den Parteigrenzen. Hier hätte es vor allem in den analytischen Teilen der Arbeit gewiss weitergeführt, nicht nach Parteien, sondern nach verwandten Europa-Bildern in der politischen Elite der beiden Länder zu fragen. Über Europa-Bilder, das ist ein implizites Ergebnis der Arbeit, entstanden eigene politische Lager jenseits der parteipolitischen Grenzen. Diese aufzuzeigen wäre ein schönes Ergebnis gewesen. Dies hätte es auch erlaubt, die einzelnen Kapitel klarer zu untergliedern und deutlich zu kürzen.
Guido Thiemeyer