Klaus Malettke: Hegemonie - multipolares System - Gleichgewicht. 1648/1659-1713/1714 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen; Bd. 3), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2012, XX + 584 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-73723-6, EUR 128,00
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Der dritte Band des Handbuchs der Geschichte der internationalen Beziehungen knüpft an Heinz Schillings Synthese zum 16. und 17. Jahrhundert an, die unter dem Titel "Konfessionalisierung und Staatsinteressen (1559-1660)" bereits 2007 erschienen ist, und schließt zugleich die Lücke zum Band des Mitherausgebers Heinz Duchhardt über "Balance of Power und Pentarchie: internationale Beziehungen 1700-1785" von 1997. Die Überschneidungen in den gewählten Zeitabschnitten der jeweiligen Bände geben den Autoren den Freiraum, ihre Darstellung auf ein spezifisches Konzept von Wandlungsprozessen zu beziehen, die für die behandelte Epoche als charakteristisch gelten können. Auch das vorliegende Werk ist einem solchen Konzept verpflichtet, das sich in groben Zügen als der Weg der europäischen Politik von der Abwehr universaler Hegemonialansprüche zur Etablierung eines neuartigen "Gleichgewichts" der Mächte kennzeichnen lässt. Diese durchaus klassische Perspektive auf das politische Europa des späteren 17. und frühen 18. Jahrhunderts gibt in zwei großen Teilen - vergleichbar den anderen Bänden der Reihe - Gelegenheit zur Einbeziehung einer Fülle von Beobachtungen, die auch neuere Themenfelder der Forschung, vor allem die Bemühungen um globale Kontextualisierung, berücksichtigen und ein insgesamt beeindruckendes Panorama entstehen lassen.
Der erste Teil bietet einen Überblick über "strukturelle Gegebenheiten und Rahmenbedingungen" und enthält allgemeinere Betrachtungen über die Entwicklung der frühmodernen Diplomatie sowie einen in fünf Gruppen zusammengefassten Überblick über die "Akteure" der internationalen Beziehungen von den Großmächten über mittlere und kleinere Staaten und Reichsstände bis zu (eher knapp behandelten) "konfessionell-ständischen" und "halbstaatlichen" Zusammenschlüssen wie den Netzwerken einer Art protestantischer Internationale und den großen Handelskompanien der Kolonialmächte. Der nach wie vor dominierende Fokus auf die Entwicklungen in Europa wird durch teilweise detaillierte Ausführungen über die asiatischen Reiche und Afrika ergänzt (255-272).
Unter dem Stichwort "Diplomatie und Gesandtschaftswesen" werden die Verdichtungen der diplomatischen Kommunikation und ihre Asymmetrien sowie die Einbettung in größere Zusammenhänge eines sich europaweit beschleunigenden Informationstransfers analysiert (53-72). Warum weder hier noch im Literaturverzeichnis auf die Forschungen von Wolfgang Behringer verwiesen wird, bleibt unklar. Ein weiteres Unterkapitel "Mittel und Methoden zur Beeinflussung der Öffentlichkeit" (72-88) setzt sich kritisch mit dem Problem der "repräsentativen Öffentlichkeit" auseinander, würdigt die Rolle des aufstrebenden Pressewesens und diskutiert die Mechanismen von Propaganda und multimedialer Herrschaftsinszenierung. Zukunftsweisende "Strukturelemente" der zwischenstaatlichen Friedensschlüsse und der ihnen vorausgehenden Kongressdiplomatie (101-111) sowie die Zusammenfassung bedeutender "Friedensutopien und Friedenspläne" (111-116) runden den allgemeinen Abschnitt des ersten Teils ab und lassen erkennen, inwiefern die geschilderte Epoche trotz der insgesamt prägenden "Dominanz des Krieges" (88-101) auch eine Zeit der allgemeinen und aktiven Bemühung um den zwischenstaatlichen Frieden war.
Bemerkenswert ist die besondere Aufmerksamkeit für demographische Gegebenheiten und den kritischen Vergleich unterschiedlicher Schätzungen (um 1700 zum Beispiel etwa 21 Millionen Menschen in Frankreich, 2,2 Millionen in Brandenburg-Preußen; Istanbul als "größte Stadt in der Alten Welt", 195). Ebenso ist ein vertieftes Interesse für die Verfassungsgeschichte der einzelnen Staaten und Reiche zu beobachten, deren institutionelle Strukturen sorgfältig und umfassend ausgeleuchtet werden, von der holländischen ridderschap über die prikazy des Zarenreiches bis zum Verhältnis von japanischem Kaisertum und Tokugawa-Shogunat. Der Leser könnte sich hier allenfalls stellenweise fragen, ob nicht etwa die Wirtschaftsgeschichte mit ihren globalen Interdependenz- und Konkurrenzstrukturen gerade im Bereich der internationalen Politik einen der internen Verfassungsgeschichte vergleichbaren, vielleicht größeren Raum einnehmen sollte, wie es im zweiten Teil dann auch teilweise geschieht. Zugleich werden ökonomische Faktoren der Staatenpolitik jedoch keineswegs ausgeklammert, sondern fließen immer wieder auch in die Analyse der strukturellen Gegebenheiten ein, beispielsweise im Fall der Abhängigkeit Englands von schwedischen Rohstoffexporten (193) oder des atlantischen Dreieckshandels (257).
Ein zweiter Teil schildert "das internationale System in Aktion", also vor allem die europäische Staatenpolitik in ihren bedeutenderen Tendenzen und Wendungen von 1648 bis 1714. Das Hauptinteresse des Autors gilt hier dem habsburgisch-bourbonischen Antagonismus, dessen fesselnde Dramatik mit großer Liebe zum diplomatischen Detail nachgezeichnet wird. Doch auch den Vorgängen in Nord- und Osteuropa sind informative Abschnitte gewidmet, die besonders die zunehmende Hinwendung Russlands nach Europa in ihrem längerfristigen Kontext analysieren. Schließlich zeigen die Ausführungen zu den Kriegen europäischer Mächte in Übersee (407-417) und zu "Fernost um 1700" (511-521), dass der globalhistorische Anspruch der Darstellung konsequent verfolgt wird.
Das abschließende Fazit in sechs Punkten bezieht sich wiederum schwerpunktmäßig auf die europäischen Verhältnisse. Neue Akteure, große Kriege, aber auch große Friedenskongresse werden als Signum der Epoche festgehalten. Die "Konsultation der Großmächte" (524) als Friedensinstrument, die Auswirkungen der Konflikte in Europa auf die Kolonien sowie die Stärken und Schwächen der "westfälischen" Ordnung der Staatenwelt und ihre Bedeutung für die Anfänge einer "Säkularisierung der Politik" stehen im Zentrum der Erörterungen. Das "multipolare Staatensystem" (526) setzte sich letztlich - mit militärischen Mitteln - gegen den ludovizianischen Vormachtanspruch durch und begründete die Priorität des politisch-diplomatischen Konzepts vom "Gleichgewicht" der europäischen Mächte.
Bernd Klesmann