Detlef Lehnert (Hg.): Kommunaler Liberalismus in Europa. Großstadtprofile um 1900 (= Historische Demokratieforschung; Bd. 6), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 316 S., ISBN 978-3-412-22131-7, EUR 42,90
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Wer sich mit Liberalismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert beschäftigt, kann nicht seine Hauptwirkungsstätte, die Stadt, ausblenden. Und wer sich diesem Zusammenhang auch noch in europäischer Perspektive widmet und damit dem "Sonderweg der Urbanisierung" in Europa Rechnung trägt [1], der spürt Defizite der Geschichtsschreibung über den Liberalismus auf. Selbst die beeindruckende Sozial- und Kulturgeschichte über die "Metropolen der Moderne" in Europa seit 1850 von Friedrich Lenger nimmt sich des Liberalismus als wesentliche politische Kraft in den Städten um die Jahrhundertwende kaum an. [2] Umso verdienstvoller ist der von Detlef Lehnert herausgegebene Sammelband. Er vereint grundsätzliche Überlegungen zum Kommunalliberalismus, Fallstudien zu deutschen und europäischen Großstädten sowie einige vergleichende Beiträge.
Dieser breite Ansatz hätte freilich eines tragfähigen theoretischen Zugriffs und einer umfassenden Berücksichtigung der Forschungslandschaft bedurft, was die Einführung nur bedingt leistet. Auf welchen Typus von Großstadt der Band abzielt, wird nicht ganz deutlich. Der Schwerpunkt liegt auf Großstädten mit "Metropolenfunktion" von mindestens 500.000 Einwohnern (8) und damit auf dem hauptstädtischen Kommunalliberalismus mit seinen spezifischen Problemlagen. Darüber hinaus wird der Liberalismus aber auch in deutlich kleineren Großstädten wie Basel und Straßburg untersucht.
In seinem so instruktiven wie grundlegenden Aufsatz über den kommunalen Liberalismus im deutschen Kaiserreich geht Dieter Langewiesche dem erklärungsbedürftigen Befund nach, dass die dominante Rolle der Liberalen in der Stadt nicht die zeitgenössische und gegenwärtige Wahrnehmung des Gesamtliberalismus geprägt habe. Dem sattsam bekannten illiberalen Wahlrecht in den Kommunen, mit dem die Liberalen den Zugriff der SPD und des Zentrums auf die Machthebel der Stadt lange Zeit verhindern konnten, stellt Langewiesche zunächst ein partizipatorisches Element an die Seite: In Bürgerversammlungen und -vereinen wurden die Kandidaten für die Wahlen zum Stadtparlament nominiert. Auch wenn der Zugang zu diesen Versammlungen rechtlich und administrativ begrenzt war, zeigten sich in diesen demokratischen Urwahlen "Formen zivilgesellschaftlichen Engagements" (47). Stadtpolitik verlief ohnehin nach anderen Regeln als im Land und im Reich: Sie verzichtete auf offizielle kommunalpolitische Programme und bediente sich einer politischen Sprache des Ausgleichs und Konsenses, sodass trotz weltanschaulicher Gegensätze pragmatische Kooperation der Liberalen mit anderen politischen Lagern möglich war. Deshalb konnte der Liberalismus die kommunale Daseinsvorsorge im bürgerlichen Sinne prägen und Impulse für eine Sozialpolitik setzen. Die kommunalliberalen Debatten zielten letztlich auf eine Reform von Staat und Gesellschaft und auf eine Erneuerung des Gesamtliberalismus. Dass dies nicht gelang und der Kommunalliberalismus trotz seiner Modernisierungsleistungen für die Städte marginal in der Wahrnehmung des Liberalismus insgesamt blieb, lag an dem mangelhaftem Willen zur Demokratisierung des illiberalen Wahlrechts, das den bürgerlichen Klassencharakter in der Stadt manifest machte und keine Attraktivität für Reich und Länder entfaltete. Zu Meinungsführern in der Debatte um einen "Neuen Liberalismus" konnte auch der sozialpolitisch sensibilisierte Kommunalliberalismus deshalb nicht werden.
Die folgenden Fallbeispiele und Vergleichsstudien orientieren sich partiell an den von Langewiesche umrissenen Problemkonstellationen. Detlef Lehnert arbeitet die Unterschiede des Kommunalliberalismus in Wien, Berlin und London heraus, die sich vor allem in der spezifischen Bewältigung neuer Formen von Massenbeteiligung vor ihren jeweiligen ökonomischen Kontexten herauskristallisierten. Die Traditionslinien des Liberalismus in der japanischen Geschichte untersucht Hideto Hiramatsu, indem er der Einführung des Elberfelder Systems der dezentralisierten und ehrenamtlichen Armenfürsorge in Osaka und Köln als Legitimationsquelle für die bürgerliche Gesellschaft nachgeht, ohne freilich beantworten zu können, wo das politisch-liberale Moment dieser Transferleistung liegt. Die erfolgreiche Kommunalpolitik einer von den Bürgern getragenen liberalen Bewegung zeichnet noch einmal Ralf Roth für die bestens erforschte Stadt Frankfurt a. M. nach. In München entwickelte sich laut Karl Heinrich Pohl ein "'sozial-liberales' kommunales Politikmodell" (188), das sich den Anforderungen der Moderne annahm. Ein fortschrittlicher Liberalismus und eine reformorientierte Arbeiterbewegung konnten Konflikte im Vorfeld bereinigen und Reformen in der Gesundheits-, Presse- und Schulpolitik durchsetzen. In Dresden wiederum, so arbeitet Holger Starke heraus, herrschte ein konservatives Klima, von dem sich die Nationalliberalen nach 1900 emanzipierten. Vor allem über das Schulwesen trieben diese eine Liberalisierung der Gesellschaft voran. Zwar keine liberale Hochburg, erwies sich in Dresden die "Kampfkraft und Zukunftsfähigkeit" (207) des Liberalismus für ganz Sachsen.
Der Blick auf europäische Städte zeigt die Bandbreite der Handlungsmöglichkeiten und -grenzen liberaler Kommunalpolitik. Trotz konfessioneller Vielfalt, dem Gegensatz zwischen Stadtstaat und Umland und den Spannungen zwischen Alteingesessenen und Zugewanderten entwickelte sich in Basel, so Georg Kreis, ein liberales System des pluralistischen Interessenausgleiches zwischen Freisinnigen, Altliberalen und Sozialdemokraten. In Budapest wie auch im ungarischen Staat herrschte hingegen ein großbürgerlich-adliger Nationalliberalismus, der sich gegen jede politische und soziale Weiterentwicklung stemmte. Erst das Erstarken kleinbürgerlich-demokratischer Kräfte und einer bürgerlich-radikalen Intelligenz führten, so András Spiros, nach der Jahrhundertwende zu Sozialreformen vor allem im sozialen Wohnungsbau, ohne die Partizipationsrechte der Bevölkerung zu erweitern. Hingegen ungleich günstigere Umstände für eine liberale Kommunalpolitik bot die Sonderstellung von Straßburg im "Reichsland Elsass-Lothringen", die Akiyoshi Nishiyama herausarbeitet. Dank des beibehaltenen demokratischeren französischen Wahlrechts nahmen reformoriente Liberale und Sozialdemokraten eine wichtige Position in der Kommunalpolitik ein und unterstützten gemeinsam die Schulpolitik des sozialliberalen Überbürgermeisters Rudolf Schwander. Dass Frankreich nicht durchweg als sozialpolitischer "Nachzügler" zu gelten habe, betont Stefan Grüner in seinem Beitrag über Paris. Trotz eingeschränkter Selbstverwaltung beteiligten sich die bis zur Jahrhundertwende den Stadtrat dominierenden Linksliberalen an dem "republikanischen Projekt" einer "sozial integrativen Bürgergesellschaft" (313), die sich symbolpolitisch in einer republikanischen Gedenkkultur manifestierte. Zusammen mit Sozialisten traten sozialpolitisch aufgeschlossene Liberale für eine interventionistische Leistungsverwaltung ein, die in der Wohnungs- und Nahverkehrspolitik den "Prozess der sozialen Segregation" (314) jedoch nicht effektiv zu steuern vermochte.
So macht dieser Band trotz einiger konzeptioneller Schwächen die Bandbreite deutlich, in der sich in europäischen Großstädten mehr oder weniger sozialliberale Laboratorien entwickelten. In ihnen konnten, je nach historischen und strukturellen Kontexten, neue Ideen zur Gestaltung moderner Städte erprobt werden, die in der Daseinsvorsorge und kommunalen Leistungsverwaltung ihren Ausdruck fanden. Doch diese Modernisierungsleistung war in vielen Städten an ein illiberales, exkludierendes Wahlrecht gebunden. Der Kommunalliberalismus hatte versäumt, eine partizipatorische Offerte an die städtische Klassengesellschaft zu machen, und fand deshalb keinen Ort im historischen Gedächtnis des Liberalismus.
Anmerkungen:
[1] Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 374.
[2] Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013.
Ernst Wolfgang Becker