Peter Brandt / Detlef Lehnert (Hgg.): Sozialdemokratische Regierungschefs in Deutschland und Österreich 1918-1983, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2017, 304 S., ISBN 978-3-8012-0495-2, EUR 24,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Detlef Lehnert: Friedrich Stampfer 1874-1957. Sozialdemokratischer Publizist und Politiker: Kaiserreich - Weimar - Exil - Bundesrepublik, Berlin: Metropol 2022
Peter Brandt / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch (Hgg.): Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Band 1: Um 1800, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006
Detlef Lehnert (Hg.): Kommunaler Liberalismus in Europa. Großstadtprofile um 1900, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014
Der zu hier besprechende Sammelband ist aus einer Konferenz der zur Friedrich-Ebert-Stiftung gehörenden Paul-Löbe-Stiftung in Berlin im November 2015 hervorgegangen. Er stellt die sozialdemokratischen Kanzler Deutschlands und Österreichs zwischen 1918 und 1983 in knappen Portraits vor - und zwar gleichberechtigt, ohne die ohnehin bekannten Namen stärker hervorzuheben als die in Forschung und öffentlichem Gedächtnis eher vergessenen Regierungschefs. Neben Aufsätzen über die "großen" Sozialdemokraten wie Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann, Willy Brandt oder Helmut Schmidt finden daher auch Gustav Bauer und Hermann Müller sowie der preußische Ministerpräsident Otto Braun ihre Berücksichtigung. Für Österreich liegen Beiträge zu Karl Renner und Bruno Kreisky vor. Eine Einleitung Detlef Lehnerts und eine Analyse des Amts des Reichskanzlers in der Weimarer Republik durch Bernd Braun komplettieren den Band.
Dieser bietet weniger einen analytischen Vergleich der Ämter in beiden Ländern, sondern vielmehr eine Sammlung biografischer Skizzen, bei denen der Fokus auf dem jeweiligen Regierungshandeln liegt, jedoch unter Einbeziehung des persönlichen Werdegangs und des innerparteilichen Aufstieges. Besonders gewinnbringend geschieht dies im Falle Willy Brandts: Im Beitrag von Einhart Lorenz steht weniger dessen Wirken als Regierender Bürgermeister, Außenminister und Bundeskanzler im Vordergrund. Vielmehr liegt der Schwerpunkt auf Brandts politischer Sozialisation im skandinavischen Exil. Vor diesem Hintergrund gelingt es Lorenz zu zeigen, welch prägende Bedeutung Brandts Exiljahre als "Lernprozess" für die Ausbildung seiner außen- sowie reformpolitischen Überzeugungen hatte.
Besonders erhellend sind darüber hinaus die beiden Aufsätze zu Gustav Bauer und Hermann Müller, den wohl unbekanntesten der sozialdemokratischen Kanzler. So wird von Tim B. Müller zu Recht bemängelt, dass Gustav Bauer als Nachfolger Scheidemanns nicht nur beinahe vergessen ist, sondern in der bislang einzigen und - Müller zufolge - politisch voreingenommenen biografischen Studie gar als "undemokratischer Demokrat" tituliert wird. [1] Müller arbeitet überzeugend heraus, dass Bauer vielmehr ein Verständnis von Demokratie entwickelte, in dem Parlamentarismus und internationale Kooperation miteinander verbunden wurden; die parlamentarische Demokratie avancierte somit zum "unüberschreitbaren Erwartungshorizont" (112). Ebenso hervorzuheben ist Rainer Behrings Skizze zu Hermann Müller, in der er einen Kontrapunkt zur "marginal[en] und notleidend[en]" (128) wissenschaftlichen Beschäftigung mit Müller zu setzen versucht. Erst 2018 und damit nach Erscheinen des Sammelbandes legte Peter Reichel die erste umfassende Biografie vor. Behring betont Müllers grundlegende Vorarbeiten zur "Erfüllungspolitik" Joseph Wirths und Walther Rathenaus. Sehr richtig stellt er fest, dass vor allem Müllers zweite Kanzlerschaft 1928-1930 nicht vom Ende, also seinem Rücktritt her gedacht werden darf. Vielmehr erreichte seine Regierung weitere Revisionen des Versailler Vertrages und bemühte sich um die Konsolidierung des Reichshaushaltes.
Letztlich gehen die gesammelten Beiträge aber nicht sehr weit über den bisherigen Forschungstand hinaus, was auch in der Auswahl der Autoren begründet liegt, denn einige unter ihnen sind bereits als Verfasser einschlägiger Biografien hervorgetreten. Ganz besonders gilt das für Hartmut Soell und seinen Aufsatz zu Helmut Schmidt, der letztlich nur ein knappes Kondensat des zweiten Bandes von Soells Schmidt-Biografie darstellt. [2] Der Beitrag von Walter Mühlhausen zu Ebert fasst im Grunde auch nur die Kernaussagen von dessen Ebert-Biografie erneut zusammen, jedoch ergänzt um Auszüge aus der kürzlich herausgegebenen Edition der Reden Eberts als Reichspräsident. [3] Auch Richard Saage hat bereits einschlägig zu Karl Renner gearbeitet, ebenso bezieht sich Christian Gellinek in seinem Beitrag zu Philipp Scheidemann überwiegend auf von ihm vorgelegte Arbeiten. In Ansätzen gilt dies auch für Oliver Rathkolbs Beitrag zu Bruno Kreisky. [4] Dabei muss festgestellt werden, dass dies vielfach mit tendenziell zu wohlwollender, manchmal gar unkritischer Würdigung der Regierungschefs einhergeht. Das gilt insbesondere für die Beiträge zu Scheidemann. Zudem werden neuere wissenschaftliche Arbeiten teilweise nicht berücksichtigt, so nimmt Siegfried Heimann im Aufsatz zu Otto Braun einen 2014 erschienenen Sammelband nicht zur Kenntnis. [5]
Das grundsätzliche Problem des Tagungsbandes besteht jedoch darin, dass ihm eine analytische Klammer fehlt und es daher letztlich bei einer additiven Sammlung biografischer Skizzen bleibt. Wo eine systematische Analyse (sozialdemokratischen) Regierens in verschiedenen Ländern und politischen Systemen möglich gewesen wäre, fehlt letztlich sogar ein Rückbezug auf die Kriterien, nach denen die verschiedenen Kanzler ausgewählt worden sind.
Das betrifft zum einen die geographischen Schwerpunkte: Ein systematischer Vergleich zwischen den Kanzlerschaften in Deutschland und Österreich wird an keiner Stelle versucht. Zu einer gleichgewichteten Darstellung kommt es sowieso nicht, da der Untersuchungszeitraum Anfang der 1980er Jahre endet und damit beispielsweise die SPÖ-Kanzler Fred Sinowatz und Franz Vranitzky unerwähnt bleiben. Um eine echte Vergleichbarkeit sozialdemokratischen Regierens über den deutschen Rahmen hinaus zu ermöglichen, hätten andere Länder mit einbezogen werden müssen, beispielsweise Schweden.
Auch eine weitere Frage bleibt ungeklärt: Was war eigentlich das Sozialdemokratische im Regieren der verschiedenen Kanzler? Die sozialdemokratischen Parteien bleiben in den Beiträgen auffällig blass, meist beschränken sich die Autoren auf einen kurzen Abriss der verschiedenen Stationen auf der innerparteilichen Karriereleiter und einen knappen Verweis auf die Positionierung auf den verschiedenen Parteiflügeln. Zu wenig wird gesagt über das "grundlegende Spannungsverhältnis zwischen Staatsnotwendigkeit und Parteiinteresse" (50), lediglich der Beitrag Bernd Brauns zum Amt des Reichskanzlers in der Weimarer Republik versucht knapp, Gemeinsamkeiten bei Werdegang und Wirken der SPD-Kanzler in der Partei herauszuarbeiten. In Siegfried Heimanns Beitrag zu Otto Braun spielen die programmatischen und generationellen Unterschiede zwischen den Fraktionen in Preußen und im Reichstag zumindest eine kleine Rolle. Ansonsten erscheint das Verhältnis zwischen Kanzler und Partei konfliktloser, als es oftmals war, man denke beispielsweise an die Auseinandersetzungen zwischen Helmut Schmidt und Willy Brandt in der Frage, inwieweit Teile der Friedens- und Umweltbewegung in die SPD integriert werden sollten. Einschlägige Überblicksdarstellungen zur SPD in der Bundesrepublik bleiben gar gänzlich unberücksichtigt.
Die Stärken des Sammelbandes liegen daher letztlich nicht in einer über die jeweiligen Persönlichkeiten hinausgehenden, wissenschaftlich gewinnbringenden Analyse sozialdemokratischen Regierens. Es sind vielmehr einzelne Beiträge, die hervorstechen und neue Erkenntnisse zu den einzelnen Personen bieten, so beispielsweise zu Gustav Bauer oder Hermann Müller. Doch ganz unabhängig von der Frage des wissenschaftlichen Mehrwerts liefert der Sammelband für den interessierten Leser doch einen kompakten Überblick über und guten Einstieg in Leben und Wirken der sozialdemokratischen Regierungschefs und ergänzt damit die in den letzten Jahren erschienenen biografischen Arbeiten zur Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie.
Anmerkungen:
[1] Karlludwig Rintelen: Ein undemokratischer Demokrat: Gustav Bauer. Gewerkschaftsführer - Freund Friedrich Eberts - Reichskanzler. Eine politische Biographie, Frankfurt/M. u.a. 1993, besonders 265.
[2] Hartmut Soell: Helmut Schmidt. 1969 bis heute. Macht und Verantwortung, München 2008.
[3] Walter Mühlhausen: Friedrich Ebert 1871-1925. Reichspräsident der Weimarer Republik, Bonn 2006; Ders: (Hg.): Friedrich Ebert - Reden als Reichspräsident (1919-1925), Bonn 2017.
[4] Richard Saage: Der erste Präsident. Karl Renner - eine politische Biografie, Wien 2016; Christian Gellinek: Philipp Scheidemann. Gedächtnis und Erinnerung, Münster u.a. 2006. Oliver Rathkolb hat kürzlich die Erinnerungen Bruno Kreiskys neu herausgegeben, siehe Bruno Kreisky: Erinnerungen. Das Vermächtnis des Jahrhundertpolitikers. Herausgegeben von Oliver Rathkolb, Wien / Graz / Klagenfurt 2014 [2007].
[5] Manfred Görtemaker (Hg.): Otto Braun. Ein preußischer Demokrat, Berlin 2014.
Felix Lieb