Nahyan Fancy: Science and Religion in Mamluk Egypt. Ibn al-Nafis, Pulmonary Transit and Bodily Resurrection (= Culture and Civilization in the Middle East; 37), London / New York: Routledge 2013, XII + 186 S., ISBN 978-0-415-62200-4, USD 145,00
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ʿAlaʾ ad-Din b. Abi Hazm, bekannt als Ibn an-Nafis (gest. 1288), war ein aus Syrien stammender muslimischer Universalgelehrter, der vor allem im höfischen Umfeld des mamlukischen Sultans al-Mansur al-Qalawun (r. 1279-1290) wirkte. Obgleich er als schafiitischer Gelehrter ausgebildet worden war und zahlreiche juristische Werke und Abhandlungen zu den Überlieferungswissenschaften verfasst hat, blieb er den Zeitgenossen in erster Linie als Verfasser medizinischer Werke im Gedächtnis. Sein besonderes Verdienst, so heißt es gemeinhin, liege "in der Erstbeschreibung des kleinen Blutkreislaufs, besser bekannt als Lungenkreislauf." (http://de.wikipedia.org/wiki/Ibn_an-Naf%C4%ABs, zuletzt abgerufen am 11.08.2014) Seine Entdeckung stünde, so liest man weiter "in fundamentalem Gegensatz zur Humoralpathologie, die durch die Werke von Galen und Ibn Sina (latinisiert: Avicenna) allgemein bekannt war, und nahm zum Teil die Entdeckung des Blutkreislaufs durch den englischen Arzt William Harvey im 17. Jahrhundert vorweg. Doch im Gegensatz zu diesem konnte sich Ibn an-Nafis auf keine empirischen Erfahrungen stützen, sondern gelangte zu seinen Ergebnissen auf dem Weg theoretischer Überlegungen." Dass dies eine theoretisch wie methodisch äußerst problematische, denn zutiefst eurozentrische Einschätzung ist, kann Nahyan Fancy von der in Greencastle, Indiana gelegenen DePauw University in seinem hier zu besprechenden Buch sehr deutlich zeigen. Einige seiner gewichtigen Argumente lauten (1) Weiterhin dient die arabische Übersetzungsbewegung des 10. und 11. Jahrhunderts als europäischer Gründungsmythos, doch werden die Muslime in die Rolle passiver Übermittler griechischer Wissenschaft und Philosophie in die lateinische Welt gedrängt. (2) Diese Sichtweise geht einher mit der Vorstellung eines gleichzeitig einsetzenden Niedergangs der islamischen Wissenschaftskultur. Es kristallisierte sich die hartnäckige These eines "Goldenen Zeitalters" arabischer Geisteswelt heraus, das spätestens zu Beginn des 12. Jahrhundert zu Ende gegangen sei. Danach hätte es zwar "Renaissancen" gegeben, die aber eben das Niveau der Hochzeit nicht mehr erreichen konnten. (3) Eine solche Metaerzählung geht natürlich einher mit der Idee eines kontinuierlich auf die europäisch definierte Moderne zulaufenden Geschichtsverlaufes. (4) Vor diesem Hintergrund werden gemeinhin auch in den Naturwissenschaften alle außereuropäischen "Leistungen" nur durch die Linse gesehen und gewertet, inwieweit es sich um Vorläufer der Erkenntnisse handelt, die im Laufe der "wissenschaftlichen Revolution" in Europa gewonnen wurden. Dieser Ansatz kranke, so Fancy, an "precursitis" (siehe bei ihm Seite 6). Ein Phänomen übrigens, dem auch mit Europa befasste Mediävisten massiv ausgesetzt sind. (5) Hinzu kommt die (letztlich sinnlose) Suche nach den Ursachen, warum es in den islamischen Ländern nicht zu den Durchbrüchen auf allen wissenschaftlichen Gebieten wie in der Alten und Neuen Welt gekommen ist. In der Regel werden die Gründe in der Religion gesehen. Der Islam wäre an sich nicht in der Lage zur rationalen Durchdringung der Welt. (6) Schließlich führte die Übertragung eines europäischen Religionsbegriffes auf die islamisch geprägten Gesellschaften dazu, eine nicht plausible Trennung von Naturwissenschaften und religiösen Texten innerhalb des muslimischen Schrifttums vorzunehmen.
Dieses Bündel einseitiger und unzulässiger Vorannahmen steht einer ernsthaften Beschäftigung und Einordnung muslimischer Wissenschaften bis heute im Wege. Doch genau hier setzt erfreulicherweise das Buch von Nahyan Fancy an. Im Anschluss an einige bahnbrechende Aufsätze und Studien der letzten Jahre (u.a. von Anna Akasoy, Thomas Bauer, Sonja Brentjes, Ahmad Dallal, Dimitri Gutas, Robert G. Morrison, Abdelhamid I. Sabra, George Saliba und Justin K. Stearns) unternimmt der Verf. den Versuch, sich von diesem Ballast zu befreien und die medizinischen Texte von Ibn al-Nafis in zweierlei Hinsicht zu kontextualisieren: zum einen gilt es, Autor und Werk in die ayyubidische und mamlukische Gesellschaft des 13. Jahrhunderts in Damaskus und Kairo einzuordnen. Zum anderen muss der intellektuelle Diskurs, in dem die Schriften des Gelehrten entstanden sind und auf den sie sich beziehen, rekonstruiert werden. Es geht um nichts weniger als um die Darstellung der essentiellen Verknüpfung von epistemologischem, theologischem und sogenanntem "naturwissenschaftlichem" Wissen in dieser Zeit. Am Ende erkennt der Leser, dass die Beschreibung des kleinen Blutkreislaufes einen im Grunde marginalen und extrem verkürzten Ausschnitt in dem intellektuellen Schaffen von Ibn Nafis darstellt und auf gar keinen Fall die Basis für eine Gesamtbewertung des Gelehrten bilden kann.
Auf eine ausgezeichnete Einleitung (1-15), in der die eben skizzierte Ausgangssituation formuliert wird, folgt die historische Kontextualisierung (16-35). Anhand einer sorgfältigen Analyse der von Ibn an-Nafis verfassten "Zusammenfassung der Wissenschaft von den Prinzipien der Überlieferungslehre" kann Fancy den Verfasser sehr gut in die lebhafte Gelehrtenszene der ausgehenden Ayyubiden- und beginnenden Mamlukenzeit einordnen. Da Ibn an-Nafis bereit war, der Vernunft einen hohen Stellenwert auch bei der Bewertung von Hadithen einzuräumen, stellten die in der Regel eher traditionalistischen muslimischen Biographen ganz bewusst seine Kompetenz auf dem Gebiet der Medizin vor seine Leistungen als Religionsgelehrter. Im Mittelpunkt des 3. Kapitels (36-68) steht die Frage, welches grundsätzliche Verhältnis der Gelehrte zum Einsatz von "Vernunft" und "Logik" bei der Gewinnung von Wissen hatte. Eine genaue Analyse seiner "Abhandlung über den rechtschaffenden Sohn des Rationalen" verdeutlicht unter anderem, dass Ibn an-Nafis generell Offenbarung rationalisieren möchte und ferner die Interaktion von Seele und Körper rational begründet. Diese Erkenntnis führt zu einer durchaus neuen Physiologie, auf die Fancy im folgenden Abschnitt seines Werkes eingeht (69-95). Im Mittelpunkt des abschließenden 5. Kapitels (96-111) steht dann die Einbettung der Theorie des kleinen Lungenkreislaufes in die von Ibn al-Nafis entwickelten physiologischen und anatomischen Vorstellungen. Alles hängt letzten Endes mit dem Versuch zusammen, eine rationale Erklärung der körperlichen Wiederauferstehung zu formulieren.
Nahyan Fancy hat ein hochinteressantes Buch vorgelegt, das allen Islamwissenschaftler/inne/n zur Lektüre anempfohlen sei.
Stephan Conermann