Julia Wilker (ed.): Maintaining Peace and Interstate Stability in Archaic and Classical Greece (= Studien zur Alten Geschichte; Bd. 16), Mainz: Verlag Antike 2012, 175 S., ISBN 978-3-938032-51-0, EUR 49,90
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"Der Frieden war das erste von allen Dingen wie das Händewaschen" (εἰρήνη μὲν πρῶτον ἁπάντων ἦν ὥσπερ ὕδωρ κατὰ χειρὸς). [1] Derart selbstverständlich, wie es in diesem zeitgenössischen Komiker-Fragment aus den Amphiktyones des Telekleides erscheint, waren Friede und zwischenstaatliche Stabilität im archaischen und klassischen Griechenland allerdings keineswegs. So hat etwa Yvon Garlan einmal gezeigt, dass sich die Athener während eines Zeitraumes vom Beginn des 5. Jahrhunderts bis zum Ende des Lamischen Krieges in zwei von drei Jahren in einem Krieg befanden. [2] Schon eine rein kursorische Lektüre relevanter Passagen bei Herodot, Thukydides oder Xenophon scheint dieses Bild von einer griechischen Poliswelt, die auch jenseits von Athen in einem permanenten Kriegszustand existierte, zu bestätigen. Die ältere Forschung hat daher auch lange Zeit den Krieg nicht nur mit Heraklit als "Vater aller Dinge" [3], sondern als einen gleichsam ursprünglichen Normalzustand zwischen den griechischen Poleis bezeichnet. [4]
Einen anderen Zugang wählt der hier zu besprechende Sammelband, der auf ein im Mai 2009 am Humanities Center in Harvard veranstaltetes Kolloquium zurückgeht und nicht den Krieg, sondern dessen Abwesenheit zu seinem Gegenstand macht. Nun entspricht die alte These vom Krieg als Urzustand schon seit langem nicht mehr dem Stand der altertumswissenschaftlichen Forschung. [5] Es ist daher nur folgerichtig, wenn Julia Wilker einleitend die Ambivalenz griechischer Vorstellungen von Krieg und Frieden betont und das Spannungsverhältnis zwischen einerseits durchaus weit verbreitetem Friedenslob und andererseits der Tatsache hervorhebt, dass der Krieg als ein unvermeidliches Mittel der zwischenstaatlichen Beziehungen niemals grundsätzlich in Frage gestellt wurde (16). Dieses Spannungsverhältnis bearbeiten im Folgenden sieben Beiträge anhand jeweils ganz konkreter Einzelfalluntersuchungen, deren zeitlicher Rahmen von der homerischen Zeit bis in das 4. Jahrhundert reicht.
Den Anfang macht David F. Elmers Analyse des berühmten Waffenstillstandes zwischen Griechen und Trojanern, der im dritten und vierten Gesang der Ilias ausführlich beschrieben wird. Ausgehend von der Beobachtung, dass beide Seiten in ihren Hoffnungen auf ein Ende der Auseinandersetzung vereint seien, hebt Elmer hervor, dass Trojaner und Griechen auch das von Agamemnon durchgeführte Eidritual mit einem gemeinsamen Gebet beenden. Sie seien daher nicht nur in ihren Hoffnungen, sondern auch in der gemeinsamen Rede verbunden und bildeten eine neue "super-community" (34). Ihre Feindschaft werde daher nicht etwa durch Freundschaft, sondern durch die Konstruktion einer größeren Gemeinschaft (vorläufig) beendet. Die neue "super-community" scheitere allerdings direkt bei ihrer ersten Bewährungsprobe nach dem Zweikampf, als die Achaier den Ausgang des Duells anders bewerten als die Trojaner. Anders verhalte sich dies interessanterweise aufseiten der Götter, bei denen der Prozess einer konsensualen Entscheidungsfindung durch das "Prinzip der vertagten Gegenleistung" [6] gesichert werde: "The key to their success (...) is the existence of a persistent context of interaction extending beyond the present moment in time." (44) Elmer gelingen in einer dichten Analyse zahlreiche treffende Beobachtungen und Deutungen. Allerdings scheint dem Rezensenten dessen These von der Entstehung einer neuen "super-community", die in Raum, Rede und gemeinsamen Hoffnungen verbunden sei, zu wenig die Gegebenheiten eines konkreten Waffenstillstandes zu berücksichtigen. Tatsächlich eine neue Gemeinschaft zu bilden, ist für die Vertragsparteien bei einem Waffenstillstand (spondai) nicht das Ziel der Vereinbarung, da sich ein Waffenstillstand anders als ein Waffenbündnis (symmachia) nicht gegen Dritte richtete. Das Ziel einer neuen "super-community" wäre daher zu hoch gegriffen und konnte nicht in der Absicht der Protagonisten liegen.
Der zweite Beitrag beschäftigt sich mit der nach-homerischen Zeit. Natasha Bershadsky analysiert den spartanisch-argivischen Konflikt um das Grenzgebiet der Kynuria / Thyreatis in all seinen historischen, mythischen und religiösen Facetten. Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildet der von Thukydides überlieferte etwas seltsame Vorschlag der Argeier aus dem Jahr 420, den Konflikt mit den Spartanern um die Kynuria trotz einer gerade abgeschlossenen 50-jährigen Waffenruhe durch eine Schlacht zu lösen, wenn dies von einer der beiden Parteien gewünscht werde. Bershadsky deutet dieses Angebot als eine Erneuerung eines rituellen Kampfes aus archaischer Zeit, der bei Herodot beschrieben werde. In der konkreten historischen Situation nach dem Nikiasfrieden sei das Angebot von einer oligarchischen Faktion in Argos vorgebracht worden, um die eigene Stellung zu legitimieren und die anti-spartanische Propaganda der demokratischen Seite argumentativ zu parieren.
Sarah Bolmarcich konstatiert in ihrem Beitrag zunächst das Fehlen einer Theorie zwischenstaatlicher Verhandlungen in der griechischen Antike und versucht diese Lücke im Folgenden mit einer Analyse zweier einschlägiger Thukydides-Passagen zu schließen. Innovativ sind insbesondere ihre Beobachtungen zu der sich gegenseitig hochschaukelnden Logik der athenisch-spartanischen Verhandlungen vor Beginn des Peloponnesischen Krieges, während ihre Interpretation des Melierdialoges eher entlang der traditionellen Linien verläuft. Ihr abschließendes Plädoyer, Thukydides' Theorie zwischenstaatlicher Beziehungen nicht als "a very modern voice" (89) abzutun, sondern als eine - gewichtige - Stimme des griechischen Diskurses ernst zu nehmen, kann man nur unterstreichen.
Die Herausgeberin Julia Wilker hebt in ihrem eigenen Beitrag hervor, dass der Königsfriede von 387/86 zwar die erste tatsächlich ratifizierte koine eirene darstellte, der Gedanke aber schon in den diplomatischen Verhandlungen des Jahres 392/91 aufkam. Dieses Ergebnis entspricht - wie auch die Beobachtung, dass der allgemeine Friede als ein innovativer Vertragstyp die negativen Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges verarbeitete - der communis opinio der Forschung.
Ebenfalls mit dem Themenkomplex der koine eirene-Verträge des 4. Jahrhunderts beschäftigt sich Polly Low, der es auf differenzierte Weise gelingt, die Ambivalenz der Friedenskonzeption dieser Zeit herauszuarbeiten und damit ein "epigraphically odd document, of indeterminate status, and uncertain authorship" (118) - gemeint ist die argivische Inschrift StV II 292, die den einzigen epigrafischen Beleg für eine koine eirene darstellt - besser zu erklären.
Peter Hunt, dessen Beitrag einige Überlegungen des neunten Kapitels seiner Monografie zu "War, Peace, and Alliance in Demosthenes' Athens" weiter entwickelt, stellt die These auf, dass rechtliche Argumente in politischen Reden des 4. Jahrhunderts eine weitaus größere Rolle spielten als bisher angenommen, pointiert formuliert: "Legalism mattered" (142). Hunts Beobachtungen sind schlagend und regen im besten Sinne des Wortes zum Weiterdenken an, allerdings möchte man mit dem Autor dessen Fazit diskutieren, dass die Forschung bisher die Zahl und Schwere der athenischen und griechischen Kriege des 4. Jahrhunderts konsequent überbewertet habe.
Maria Brosius liefert mit ihren Überlegungen zur persischen Diplomatie gegenüber den griechischen Poleis Kleinasiens den letzten Beitrag des Bandes. Persische Diplomatie habe sich - wie die Innenpolitik - zwischen den Polen einer grundsätzlichen "Pax Persica", die so lange galt, wie die Gegenseite den Großkönig nicht herausforderte, und einer Politik der "Zero-Tolerance" (150) gegenüber 'Aufrührern' bewegt. Vor die Wahl gestellt, hätte sich eine ionische Polis des 5. oder frühen 4. Jahrhunderts nach Brosius eher für eine Unterwerfung unter die persische als unter die athenische Herrschaft entschieden. In diesem Sinne sei daher auch eine Passage in einer athenischen Inschrift des Jahres 390, die die Beziehungen zu Erythrai behandelt und die bisher immer in die gegenteilige Richtung gedeutet worden ist, zu interpretieren.
Deutschsprachige Kurzzusammenfassungen der Beiträge, die allerdings auch schon in der Einleitung paraphrasiert werden, knappe Angaben über die Autoren und drei Indices beschließen das Werk.
Insgesamt bildet dieses kleine Buch einen wichtigen Beitrag zu der in der Forschung aktuell stark diskutierten und noch nicht abgeschlossenen Debatte über Bedeutung und Erfolg der griechischen Diplomatie. Auch wenn nicht alle Beiträge von derselben Qualität sind, hält doch die überwiegende Mehrzahl der Aufsätze so anregende Gedanken und treffende Beobachtungen bereit, dass eine Lektüre nur empfohlen werden kann.
Anmerkungen:
[1] Telekleides: Amphiktyones fr. 1 K.-A. (1 K.) mit Andreas Bagordo: Telekleides. Einleitung, Übersetzung, Kommentar, Heidelberg 2013, 43-59.
[2] Yvon Garlan: War in the Ancient World, London 1975, 15; s. dazu in dem vorliegenden Band den Beitrag von Peter Hunt (146).
[3] Herakl. fr. 53 (DK).
[4] So v.a. Bruno Keil: ΕΙΡΗΝΗ. Eine philologisch-antiquarische Untersuchung, Leipzig 1916.
[5] Ernst Baltrusch: Außenpolitik, Bünde und Reichsbildung in der Antike, München 2008, 22-26, 88f.
[6] Egon Flaig: Das Konsensprinzip im homerischen Olymp. Überlegungen zum göttlichen Entscheidungsprozess Ilias 4.1-72, Hermes 122 (1994), 13-31, Zitat: 16, 25.
Sebastian Scharff