Alan H. Sommerstein / Andrew J. Bayliss: Oath and State in Ancient Greece. With Contributions by Lynn A. Kozak and Isabelle C. Torrance (= Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 306), Berlin: De Gruyter 2013, X + 376 S., ISBN 978-3-11-028438-6, EUR 79,95
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Das hier anzuzeigende Handbuch ist aus der Arbeit des von Alan H. Sommerstein geleiteten Nottinghamer Oath-Project hervorgegangen. Es stellt den zuerst publizierten zweiten Teil einer auf eben so viele Bände angelegten Geschichte des archaischen und klassischen Eides dar. [1] Als Quellengrundlage dient die exzellente und unter http://www.nottingham.ac.uk/greatdatabase/brzoaths/public_html/database/index.php frei zugängliche Datenbank des Projektes, die alle griechischen Schwüre bis zum Jahr 323 v. Chr. umfasst. Mit dieser Database hat das Team um Sommerstein eine wahrhafte Pionierarbeit geleistet.
"Oath and State" gliedert sich in zwei Hauptteile, deren erster Eide innerhalb eines Gemeinwesens behandelt ("Oaths in the polis", 1-128), während der zweite sich mit Schwurleistungen im zwischenstaatlichen Bereich ("Oaths and interstate relations", 147-325) beschäftigt.
Der erste Hauptteil beginnt mit einer kurzen Einleitung aus der Feder von Sommerstein (3-8), die nach einer so knappen wie präzisen Definition der beiden Zentralbegriffe 'oath' und 'state' zeigt, dass von einem Gemeinwesen im Wortlaut vorgeschriebene Eide wie selbstverständlich schon in den frühesten literarischen Quellen auftauchten. Die Einleitung schließt mit der Formulierung des Arbeitszieles der Untersuchung: "We shall now see in detail how poleis of the archaic and classical period deployed oaths to regulate almost every aspect of their public life." (8).
Es folgen zwei von Andrew J. Bayliss verantwortete Kapitel, die sich mit Bürgereiden und Amtseiden auseinandersetzen. Dabei gelingt es Bayliss in Kapitel 2 überzeugend, die Vielfalt der Anlässe herauszuarbeiten, bei denen griechische Gemeinwesen Eide vorschrieben. Eide wurden, das wird jedenfalls für Athen deutlich, gleichsam von der Wiege bis zur Bahre geleistet. Sie waren nicht nur auf der Ebene der Polis zu schwören, sondern etwa auch bei der Aufnahme in die Phratrie oder in die Demenliste (11-13). Das zeigt: Auch Unterabteilungen der Polis waren als Schwurgemeinschaften organisiert. Einer überzeugenden Analyse des athenischen Ephebeneides (13-22) folgt eine etwas freie Deutung des Eides der spartanischen enomotiai (22-29). Bürgereide in einer neu gegründeten Polis und Eide, die einen Synoikismos absichern sollten, kommen in den Unterkapiteln 2.5 und 2.6 zur Sprache.
Das dritte Kapitel nimmt griechische Amtsträger als Schwurleister in den Blick: Archonten und Strategen (3.2), Bouleuten (3.3) und kleinere Amtsträger wie Demenschatzmeister oder Choregen (3.4) hatten zu Beginn ihrer Amtszeit - und wenn sie von ihrem Amt zurücktreten wollten (3.5) - einen Eid zu leisten. Schwurleistungen waren im öffentlichen Leben der Polis omnipräsent.
Vier Kapitel von Sommerstein schließen den ersten Hauptteil des Werkes ab. Während Kapitel 4 die interessante Frage aufwirft, wie man sich die Beeidigung großer Versammlungen in der Praxis vorzustellen habe - ein Problem, das allerdings v.a. in größeren Poleis wie Sparta und Athen virulent wurde -, bietet das recht umfangreiche fünfte Kapitel eine sehr nützliche Unterscheidung zwischen den zahlreichen Typen von Gerichtseiden, für die im Griechischen jeweils ein eigener Terminus existierte. Besonders gelungen ist das Kapitel 5.7 ("Oaths to avoid irrelevance"), das zeigt, dass athenische Gerichtsredner in Privatprozessen ab einem bestimmten Zeitpunkt im 4. Jahrhundert schwören mussten, tatsächlich nur über den anstehenden Fall zu sprechen - ein äußerst prägnantes Beispiel für die Auswüchse des attischen Rechtswesens in dieser Zeit!
Die deutlich kürzeren Kapitel 6 und 7 behandeln zum einen Faktionseide (synomosiai), die sich die Mitglieder einer politischen Gruppierung innerhalb einer Polis untereinander leisteten, um sich gegenseitig ihrer Treue zu versichern, zum anderen Amnestieeide, die im Rahmen einer Versöhnung nach einer Stasis notwendig wurden. Beide Phänomene gehören eng zusammen, wie die in Amnestieeiden gelegentlich auftretende Formel, den neuen Eid "zum wichtigsten Schwur" (142f.) zu machen, verdeutlicht. Kapitel 6 gelingt es, begriffsgeschichtlich "the great flourishing of sunomosia language" (122) im Athen der 420er Jahre herauszuarbeiten, während Kapitel 7 einige anregende Gedanken zu dem 2007 publizierten 'Eid der Dikaiopoliten' präsentiert.
Der zweite Hauptteil, für den hauptsächlich Bayliss verantwortlich zeichnet, beginnt erneut mit einer kurzen Einleitung, in der mit Recht hervorgehoben wird, dass die Bedeutung von Eiden im zwischenstaatlichen Verkehr von der Forschung bisher eher stiefmütterlich behandelt worden ist und daher besondere Beachtung verdient. Problematisch ist, dass der Eindruck vermittelt wird, das Instrument des Vertragseides sei vor der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts nicht angewandt worden (148). Tatsächlich finden sich Vertragseide bereits in den frühesten epigraphisch bezeugten griechischen Staatsverträgen, die eben aus dieser Zeit stammen. Da der Amphiktyoneneid zudem sicher älter ist und Eide als Absicherung einer zwischenstaatlichen Vereinbarung ja schon bei Homer eine zentrale Rolle spielen, gibt es keinen Grund, das Aufkommen des griechischen Vertragseides erst nach der Entstehung des Vertragswesens bei den Griechen anzusetzen.
Es folgt das achte Kapitel der Untersuchung, das einen strukturierten Überblick über die zentralen Elemente eines jeden Vertragseides bietet. Nach dem Eidritual (8.1), werden die Schwurgottheiten (8.2), das Konzept der göttlichen Vergeltung (8.3) und die Eidesleister (8.4) abgehandelt.
Die Kapitel 9-11 sind nach Vertragstypen gegliedert: Kapitel 9 nimmt Eide in Symmachien in den Blick, während das zehnte die Absicherung von Friedensverträgen - gefolgt von Waffenstillständen in Kapitel 11 - analysiert. Der Schwerpunkt des neunten Kapitels liegt auf den verschiedenen Eidklauseln, die vom 6.-4. Jahrhundert Verwendung fanden. Dabei gelingt es, die Klauseln nicht als etwas von vorneherein Gegebenes zu interpretieren, sondern in ihrer Entwicklung gleichsam zu historisieren. Dies gilt für das Unterkapitel 9.5, in dem eine zentrale Klausel der Seebundeide, nämlich "dieselben Feinde und Freunde zu haben", analysiert wird, in noch größerem Maße aber trifft es auf das Kapitel 9.6 zu, das sensibel die Entwicklung der Eidesklauseln des Peloponnesischen Bundes bis hin zu der - nach Bayliss seit dem 30jährigen Frieden von 446/ 45 - voll entwickelten Eidesformel nachzeichnet, mit der die Spartaner ihre Bündner verpflichteten. Diesen beiden Unterkapiteln gehen vier weitere voran, die die gegenseitige Verpflichtung zum gemeinsamen Kampf als historischen Ausgangspunkt der Symmachie ausmachen (9.1), die sogenannten "anti-deceit clauses" analysieren (9.3) und auch Defensivbündnisse in den Blick nehmen (9.4). Dabei enttäuscht die Untersuchung der "anti-deceit clauses" etwas, da nicht gefragt wird, in welchen Verträgen diese Formeln besonders häufig auftreten und damit die Trägergruppen der Vereinbarung nicht berücksichtigt werden. [2] Eine gewisse Sonderstellung innerhalb des neunten Kapitels nimmt das Unterkapitel 9.2 ein, da es sich weniger mit der Entwicklung der Eidesformeln über einen längeren Zeitraum auseinandersetzt, sondern mit dem Eid von Plataiai eine einzelne konkrete Schwurleistung untersucht. Dabei gelingt es der Autorin Lynn A. Kozak, diesem in der Forschung viel diskutierten Eid einen neuen Aspekt abzugewinnen, indem sie ihn als "a series of oaths before and after the Battle of Plataea" (196) interpretiert. Das neunte Kapitel schließt mit der Analyse von Eiden "between multiple equals" (9.7) und einer Untersuchung von 'alten Eiden' (9.8), die zwei wichtige Punkte anspricht: zum einen die Frage, warum Vertragsstelen noch Hunderte von Jahren nach dem Auslaufen oder dem Bruch der Vereinbarung im Heiligtum stehen bleiben konnten, zum anderen das Problem der Eideskollision in zwischenstaatlichen Beziehungen.
Kapitel 10 dekliniert nach einer Analyse der religiösen Absicherung der Vereinbarung im Ritual (10.1) und der historischen Ursprünge der beschworenen Friedensverträge (10.2-3) die zentralen Friedensschlüsse aus dem Untersuchungszeitraum der Arbeit durch. Dabei kommt Bayliss en passant zu dem Ergebnis: "what limited information we possess therefore suggests that the process of formalizing a peace treaty was quite similar to that for formalizing an alliance" (244).
Das elfte Kapitel beschäftigt sich zunächst mit den spondai zur Bergung der Toten (11.1), dann mit den übrigen "battlefield truces" (11.2). Kapitel 12 hat Eide mit Nichtgriechen zum Inhalt und wurde von Isabelle C. Torrance verfasst, die sich in einer in der aktuellen Forschung kontrovers diskutierten Frage eindeutig positioniert. So geht sie von der Prämisse aus, dass "[i]n the context of oath-taking, as in other matters, Greeks respected and admired individuals and communities on the basis of their actions, regardless of their ethnic identity." (307) Auch wenn es tatsächlich ein wichtiges Faktum darstellt, dass die Grammatik des Eidrituals bei innergriechischen Verträgen dieselbe war wie bei Vereinbarungen mit Nichtgriechen, so bedeutet das eben nicht gleichzeitig auch, dass Griechen gegenüber Nichtgriechen frei von Vorurteilen und ethnischen Stereotypen gewesen wären. Eine derart eirenische Perspektive wird dem doch komplexeren Sachverhalt nicht gerecht.
Als Hauptkritikpunkt an dem zweiten Teil der Untersuchung ist zu konstatieren, dass das Gliederungsprinzip nach Vertragstypen, das für die Kapitel 9-11 angewandt wird, nur bedingt überzeugt - ergeben sich doch kaum Unterschiede zwischen den verschiedenen Vertragstypen, was die Gestaltung und Absicherung der Eide angeht.
Eine "Conclusion" beschließt die Studie. Sie stellt allerdings keine Gesamtzusammenfassung des Werkes dar, sondern liefert nur ein Resümee des zweiten Teils der Arbeit. Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass die Häufigkeit der Klagen über Eidbruch in den griechischen Quellen eher als Zeichen für die Effektivität von Eiden als für deren Gegenteil zu deuten ist, da der jeweilige Urheber einer solchen Klage ja davon ausgehen musste, dass die Institution des Eides für seine Adressaten von großer Bedeutung war.
Die Studie endet mit einer Bibliographie, einem Namens- und Sachindex sowie einem Stellenverzeichnis. In der Bibliographie vermisst man den ein oder anderen wichtigen Titel. [3] Insgesamt wird das Werk seinem Hauptanliegen, die Vielfalt der - politischen, rechtlichen und religiösen - Kontexte zu verdeutlichen, in denen Eide in der archaischen und klassischen Zeit geleistet wurden, vollauf gerecht. Die an einzelnen Kapiteln oder Passagen geäußerte Kritik mindert nicht den Wert dieser Studie als eines neuen Handbuchs für die zukünftige Eidesforschung, für die gleichwohl noch einiges zu tun bleibt.
Anmerkungen:
[1] Der erste Teilband "Oaths and Swearing in Ancient Greece", herausgegeben von Alan H. Sommerstein und Isabelle C. Torrance, ist gerade in derselben Reihe erschienen.
[2] Vgl. hierzu Gazzano, F., Senza frode e senza inganno. Formule 'precauzionali' e rapporti interstatali nel mondo greco, in: L. Santi Amantini (Hg.), Dalle parole ai fatti. Relazioni interstatali e communicazione politica nel mondo antico, Rom 2005, 1-34, die überzeugend nachweisen kann, dass diese Klauseln besonders bei Verträgen mit Nichtgriechen und in innerkretischen Bündnissen auftauchten.
[3] So etwa die zentralen Beiträge von Berti, I., "Now let Earth be my witness and the broad heaven above, and the down flowing water of the Styx...". (Homer, Ilias XV, 36-37): Greek Oath-Rituals, in: E. Stavrianopoulou (Hg.), Ritual and Communication in the Graeco-Roman World, Lüttich, 181-209, Brulé, P., Le polythéisme en transformation. Les listes de dieux dans les serments internationaux en Grèce antique (Ve-IIe siècle av. J.-C.), in: N. Belayche u.a. (Hgg.), Nommer les Dieux. Théonymes, épithètes, épiclèses dans l'Antiquité, Turnhout 2005, 143-174 und Lonis, R., La valeur du serment dans les accords internationaux en Grèce classique, DHA 6 (1980), 267-286.
Sebastian Scharff