Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2014, 1451 S., ISBN 978-3-406-66051-1, EUR 39,95
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Waren die historiographischen Meistererzählungen lange Zeit vom Narrativ der Geschichte der Bundesrepublik als einer Erfolgsgeschichte geprägt gewesen, so wächst in den letzten Jahren die Zahl der Arbeiten, die die 1970er Jahre als eine Epochenwende beschreiben. Der Ölpreisschock vom Herbst 1973 dient als Chiffre für einen weltwirtschaftlichen Strukturbruch, in der die Zeit des Booms durch eine Zeit der Krisen abgelöst wird, die als Vorgeschichte der mit globalen Herausforderungen konfrontierten Gegenwart gilt. Auch Ulrich Herbert folgt diesem Interpretationsmodell, in dem die ökonomischen und technologischen Wandlungsprozesse als grundlegende Faktoren für die Entwicklungen in den Bereichen Politik, Gesellschaft und Kultur verstanden werden.
Einleitend fragt Herbert, warum trotz der "personellen und mentalen Hinterlassenschaften der NS-Diktatur" in der Bundesrepublik ein demokratischer Staat und eine westlich-liberale Gesellschaft entstehen konnten (16). Er erklärt dies mit der wegweisenden Rolle der Westalliierten, deren "Pläne zur gesellschaftlichen Umgestaltung" zwar nur partiell erfolgreich gewesen seien; die Entmilitarisierung wurde aber "schnell und vollständig vollzogen, Presse und Rundfunk wurden völlig neu formiert, die Bestrafung von NS-Verbrechern, die Ausschaltung der NS-Eliten, auch die Entnazifizierung gelangen jedenfalls teilweise" (580), da durch die Fernhaltung aus dem öffentlichen Leben über Jahre hinaus den NS-Funktionären eine Lektion verpasst worden sei. Mit ihrem Bestreben, die wirtschaftliche Macht in Westdeutschland zu zerschlagen, seien die Westalliierten zwar weitgehend gescheitert, die Amerikaner aber hätten durch den Marshallplan die "Grundlage wirtschaftlicher und politischer Stabilität" in Westeuropa wie auch in Westdeutschland geschaffen (594). Die antisowjetische Stoßrichtung des Marshallplans, der als eine Ergänzung der Containment-Politik Trumans auf dem wirtschaftlichen Feld begriffen wurde, beleuchtet Herbert indes kaum.
Herbert folgt Knut Borchardt, wenn er betont, dass die Währungsreform und das Leitsätzegesetz vom Juni 1948 einem "wirtschaftspolitischem Urknall" geglichen hätten (598), der zu einem steilen Anstieg der Produktion geführt habe. Die "Soziale Marktwirtschaft" sollte nicht nur eine am freien Markt orientierte Wirtschaftsordnung in Westdeutschland etablieren, sondern auch die "ungebremste Durchsetzung wirtschaftlicher Macht verhindern und die sozial Schwachen schützen" (598). Der Begriff "Soziale Marktwirtschaft" taucht allerdings nicht erst 1949 auf, wie Herbert schreibt, sondern bereits in Alfred Müller-Armacks 1947 publiziertem Buch "Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft".
Während Herbert die wirtschaftliche Entwicklung und Neuordnung minutiös nachzeichnet, widmet er dem in Bonn tagenden Parlamentarischen Rat nur drei knappe Seiten (607-610), die nicht immer zu überzeugen vermögen. SPD-Chef Kurt Schumacher hat niemals auf die "unzureichende Legitimität" des Parlamentarischen Rates angespielt, sondern diesen als "einzige[n] Rechtsschöpfer" begriffen, der "keiner Assistenz" durch die Alliierten bedürfe [1]. Der Verzicht auf eine Volksabstimmung über das Grundgesetz war nicht dem "Zweifel an der demokratischen Zuverlässigkeit der Deutschen" geschuldet, sondern dessen Provisoriumscharakter.
Dem Mainstream der Forschung trägt Herbert Rechnung, wenn er die Westintegration, das sogenannte Wirtschaftswunder und die Sozialpolitik zu den drei Säulen der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte zählt. Zu Unrecht aber lastet er der SPD das Scheitern einer Gesamtreform der Sozialversicherungen an, hatte diese doch bereits 1952 einen am Konzept einer steuerfinanzierten Staatsbürgerversicherung orientierten Sozialplan vorgelegt, der im Zeichen des Ost-West-Konflikts jedoch zum Scheitern verurteilt war. Die Geschichte der Bundesrepublik in den 1950er Jahren ist für Herbert indes nicht nur vom Erfolg geprägt, sondern auch durch ein "Kainsmal": "Die Angehörigen der NS-Eliten und selbst die Massenmörder aus Sicherheitspolizei und SD" waren schließlich "zu einem großen Teil beinahe ungeschoren davongekommen" (667). Das von Herbert konstatierte partielle Gelingen der Entnazifizierung wird hier dann doch wieder in Frage gestellt.
Die 1960er Jahre beschreibt Herbert wie schon in seinen früheren Arbeiten als eine Zeit des Aufbruchs und des Wandels, die sich in der Kritik an einem staatsfixierten Demokratiebegriff, der Abkehr von einem überholten Sittlichkeitskodex und den Kontroversen zwischen Staat und Intellektuellen manifestiere, zu denen er kritische Journalisten, die literarisch-politische Opposition der Gruppe 47 und Emigranten wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno rechnet, die allerdings entgegen Herberts Behauptung in den 1960er Jahren keine marxistische Gesellschaftskritik mehr betrieben. Nicht 1968, das zuweilen in der Forschung zum Epochenjahr erhoben wurde, sondern 1965 erklärt er zum "Jahr des Umbruchs" (783), wobei er 1965 freilich als Chiffre für längerfristige gesellschaftliche Entwicklungen und Trends versteht. Eine jüngere gut ausgebildete Gruppe habe, so sein Fazit, die Traditionen durchbrochen, an denen eine ältere aus der Arbeiterschaft kommende Gruppe noch festgehalten habe.
Die Revolte von "1968" ordnet er in den internationalen Kontext ein, wobei er die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA als "Urknall der neuen Protestbewegung in der westlichen Welt" bezeichnet (843). Die "überschießende Radikalisierung" der westdeutschen Protestgeneration sei der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des NS-Regimes geschuldet gewesen. Herbert räumt freilich ein, dass die Protagonisten der Protestbewegung den "Unterschied zwischen dem demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik und der NS-Diktatur bagatellisiert" hätten (855). Die in der Forschung weitverbreitete Auffassung, dass die "1968er" trotz ihrer antidemokratischen Ziele den Liberalisierungsprozess in der Bundesrepublik befördert hätten, vermag er nicht uneingeschränkt zu teilen. Er stößt vielmehr auf "Widersprüche und offene Fragen" (864), die er allerdings nicht ausformuliert. Die Fragen könnten lauten: Führte der Radikalismus der Protestbewegung zu einem Auseinanderbrechen des gerade erst etablierten Konsenses westdeutscher Politiker und Eliten über Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozesse? Ließ er die Reformeuphorie bei einem wachsenden Teil von ihnen in Reformskepsis umschlagen? Eine eingehende Analyse der Bildungs- und Hochschulpolitik, die Herbert nur kursorisch behandelt, hätte u.a. eine Antwort auf diese Fragen geben können.
Die Darstellung der Reformpolitik der Großen wie auch der sozial-liberalen Koalition fällt kurz aus. Die Ausweitung der Staatskompetenzen und die sozial-liberale Sozialpolitik, die "zu einer historisch einzigartigen Ausweitung der sozialen Leistungsansprüche innerhalb weniger Jahre" geführt habe, sei zu einer "schweren Hypothek" geworden (881), die allerdings - das sollte man doch hinzufügen - nicht nur auf das Konto von SPD und FPD ging, denn es war die Union, die im Parteienwettbewerb ein sehr kostenträchtiges Rentenpaket geschnürt hatte.
Mit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods, dem Ölpreisschock und dem beschleunigten wirtschaftlichen Strukturwandel begann die Krisengeschichte der Bundesrepublik, die durch abflachendes Wirtschaftswachstum, schnell wachsende Arbeitslosigkeit und eine rapide steigende Verschuldung der Staatshaushalte gekennzeichnet war. Das Ende der klassischen Industriegesellschaft, die Dominanz der Dienstleistungsgesellschaft, die immer geringer werdenden nationalen Steuerungsmöglichkeiten angesichts der voranschreitenden Globalisierung sowie die eng damit verbundene "Ablösung konformer und standardisierter Lebensformen" (909) verlangten von der Politik neue Problemlösungsstrategien. Herbert ist sich mit der großen Mehrheit der Historiker einig, dass die marktradikalen Wirtschaftskonzepte Reagans und Thatchers in der Bundesrepublik keine Durchsetzungschance hatten, denn sie widersprachen "dem in der Bundesrepublik immer aufs Neue befestigten Prinzip einer sozialen, nicht allein an ökonomischen Gesichtspunkten orientierten Marktwirtschaft" (977).
Breiten Raum widmet Herbert den Umweltdebatten und der Ökologiebewegung, denn nach seiner Auffassung "erwies sich die Ökologiefrage als Jahrhundertthema, das in seiner weltweiten Bedeutung auf einer Ebene mit der sozialen Frage stand" (985), auf der er auch die Forderung nach Gleichstellung der Geschlechter ansiedelt. Durch die Bürgerinitiativen und Neuen sozialen Bewegungen hätte das politische System der Bundesrepublik einen "erheblichen Zuwachs an demokratischer Legitimation" gewonnen (1001), das - so könnte man kritisch anmerken - allerdings zunehmend Züge einer Demokratie einer gut situierten Mittelschicht annahm [2].
Herbert folgt dem gängigen Narrativ, nach dem die Bundesrepublik Ende der 1980er Jahre im Westen angekommen war. Die "vielfältigen Prozesse der Liberalisierung und Pluralisierung" hätten die Gesellschaft integriert und eine Anerkennung des Staates im linken wie im konservativen Spektrum ermöglicht (1009). Es habe sich ein "westdeutsches Sonderbewusstsein" herausgebildet. Die tradierten Vorstellungen von einer nationalstaatlichen Einheit hätten ihre prägende Kraft verloren. Herbert rechnet es Helmut Kohl als großes Verdienst an, dass er nach dem Mauerfall mit seinem Zehn-Punkte-Plan vom 28. November 1989 die deutsche Vereinigung wieder auf die politische Tagesordnung setzte. Eine Alternative zur Ausdehnung des politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik auf die DDR sieht er nicht; die Bundesregierung habe aber die Menschen über die Probleme der Vereinigung nicht hinreichend aufgeklärt.
Die 1990er Jahre seien in "vielen Hinsichten ein Jahrzehnt der Überforderung" gewesen (1144), denn Deutschland habe eine neue weltpolitische Rolle übernehmen müssen, die das Land mit dem Golfkrieg, dem Jugoslawienkonflikt, der Auflösung der UdSSR, der weltweiten Massenimmigration und der Asyldebatte konfrontiert habe. Die Beteiligung der Bundesrepublik an der NATO-Militärintervention im Kosovokrieg markiert für Herbert einen "tiefen Einschnitt", da mit ihr die "Kultur der Zurückhaltung" aufgegeben wurde, um eine außenpolitische Isolierung zu vermeiden (1230). Die zweite große Zäsur sieht er in der Agenda 2010, die er als "Ende der Sozialpolitik der klassischen Industriegesellschaft" verstanden wissen will (1246). Die Agenda 2010 bedeutete allerdings nicht nur einen Bruch mit dem tradierten Sozialmodell, sondern stand auch für Kontinuität, denn mit dem Rückbau des Sozialstaates konnte die Durchsetzung marktradikaler Konzepte verhindert werden.
Ulrich Herbert präsentiert uns im zweiten Teil seines Opus magnum eine luzide, vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zu den Anfängen des 21. Jahrhunderts reichende Darstellung der wirtschaftlichen und technologischen Wandlungsprozesse in Westdeutschland und der mit ihnen eng verknüpften Entwicklungen der Sozialstruktur und wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen, der Lebensstile und Mentalitäten, der Konsummuster und der Populärkultur. Der gewählte strukturgeschichtliche Ansatz führt jedoch dazu, dass die politische Ereignisgeschichte und die formierenden Kräfte des Staates jenseits von Europäisierung und Globalisierung meist nachrangig und kursorisch behandelt werden. Für Herbert stellt der Strukturbruch der 1970er Jahre die epochale Zäsur dar und nicht die Erosion des Kommunismus, die deutsche Wiedervereinigung und die europäische Neuordnung mit ihren vielfältigen Verheißungen und Verwerfungen. Themen wie Bildung, Wissenschaft und Hochschulpolitik interessieren ihn nur am Rande, was erstaunt, denn diese Bereiche wurden unmittelbar mit den Herausforderungen des Strukturwandels konfrontiert. Auf die in der Bundesrepublik geführten intellektuellen Debatten - soweit sie nicht die Geschichtswissenschaft und die Vergangenheitspolitik betreffen - geht er kaum ein, auf die wirklichkeitsprägende Dimension des Rechts überhaupt nicht. Religion und Hochkultur werden nicht einmal, wenn sie im politischen und öffentlichen Raum präsent sind, in die Darstellung mit einbezogen. Der Ansatz von Herbert, wirtschaftliche, gesellschaftliche und sozio-kulturelle Entwicklungen zum Ausgangspunkt der Geschichte der Bundesrepublik zu wählen, stößt auf Grenzen, da er Prozesse und Paradigmenwechsel, Konflikte und Krisen in zentralen politischen und kulturellen Feldern nicht ausreichend zu erklären vermag.
Anmerkungen:
[1] Referat Schumachers für den Parteitag der SPD (August/September 1948), in: ders.: Reden - Schriften - Korrespondenzen 1945-1952. Hrsg. von Willy Albrecht, Bonn 1985, 588-619, hier 615.
[2] Vgl. Paul Nolte: Jenseits des Westens? Überlegungen zu einer Zeitgeschichte der Demokratie, in: VfZ 61 (2013), 275-301, hier 298.
Petra Weber