Ilgvars Misans / Klaus Neitmann (Hgg.): Leonid Arbusow (1882-1951) und die Erforschung des mittelalterlichen Livland (= Quellen und Studien zur baltischen Geschichte; Bd. 24), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 383 S., ISBN 978-3-412-21685-6, EUR 47,90
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Madlena Mahling / Klaus Neitmann / Matthias Thumser (Bearb.): Liv-, Est- und Kurländisches Urkundenbuch. Erste Abteilung. Band 13: 1472-1479, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018
Klaus Neitmann (Hg.): Vom ein- zum mehrkonfessionellen Landesstaat. Die Religionsfrage in den brandenburg-preußischen Territorien vom 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert, Berlin: Duncker & Humblot 2021
Klaus Neitmann: Land und Landeshistoriographie. Beiträge zur Geschichte der brandenburgisch-preussischen und deutschen Landesgeschichtsforschung. Hg. von Hans-Christof Kraus und Uwe Schaper, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Leonid Arbusow d. J. (1882-1951) war einer der bedeutendsten baltischen Mediävisten des 20. Jahrhunderts. Durch den von Klaus Neitmann und Ilgvars Misāns 2014 herausgegebenen Sammelband "Leonid Arbusow (1882-1951) und die Erforschung des mittelalterlichen Livland" wird sein Schaffen erstmals umfassend dargestellt und analysiert.
Basierend auf einer 2007 in Riga abgehaltenen Konferenz besteht der Band aus zwei Teilen: der erste versammelt Aufsätze, die sich mit Leben und Werk Arbusows auseinandersetzen, im zweiten werden neuere Forschungen zum mittelalterlichen Livland vorgestellt. Diese doppelte Zielsetzung des Bandes ist durchaus fruchtbar, werden doch die zahlreichen Berührungspunkte der aktuellen Forschung mit den Fragestellungen Arbusows deutlich. Beispielsweise knüpft Raoul Zühlke mit seinem, im Einzelnen angreifbaren, Beitrag zu Zentralorten in Livland an die Debatten Arbusows mit Fritz Rörig und Paul Johansen um die maßgeblichen Impulse zur Gründung Rigas sowie an dessen Beschäftigung mit der Frühgeschichte Livlands an (53 ff., 68 ff., 147, 174, 178 ff.). Dabei wird in den meisten Beiträgen des zweiten Teils nicht explizit auf Leonid Arbusow Bezug genommen - wünschenswert wäre dies gewesen, um einerseits die zwei Teile des Bandes enger zu verknüpfen, andererseits um die Weiterentwicklung der Forschung in den zurückliegenden Jahrzehnten deutlicher zu demonstrieren. Einen Wermutstropfen stellt auch die lange Vorbereitungszeit des gedruckten Bandes dar. So sind einige 2007 vorgetragene Beiträge des zweiten Teils mittlerweile an anderen Orten publiziert worden oder durch abgeschlossene Dissertationen teilweise überholt. [1]
Insbesondere interessant und einmalig ist der erste Teil des Sammelbandes. Zunächst stellt Klaus Neitmann in einem kenntnisreichen Aufsatz Wirken und Werdegang Arbusows erstmalig umfassend dar und verdeutlicht so dessen beeindruckende Themenvielfalt und Quellenkenntnis. Im Folgenden widmen sich Ilgvars Misāns, Matthias Thumser, Inna Põltsam-Jürjo, Bernhart Jähnig und Peter Wörster einzelnen Aspekten seiner Tätigkeit und seines Erbes. Dabei bleiben die Darstellungen nicht beim Wirken des einzelnen Wissenschaftlers stehen - durch Arbusows exponierte Stellung und sein umfassendes Wirken gelingt hier auch die partielle Aufarbeitung der letzten Phase der deutschbaltischen Geschichtsschreibung. Matthias Thumser entwirrt die verworrene Entstehungsgeschichte der "Akten und Rezesse der livländischen Ständetage". Die Kontroversen mit den sich etablierenden lettischen Geschichtsforschern vor dem Hintergrund (hochschul-)politischer Konstellationen werden durch Ilgvars Misāns dargestellt. Die Entstehung und Konzeption eines der letzten Großwerke deutschbaltischer Historiografie, Arbusows Arbeit zur Reformation in Livland, betrachtet Bernhart Jähnig. Inna Põltsam-Jürjo wiederum bettet Arbusows Bemühen um kulturgeschichtliche Fragestellungen in einen breiteren Kontext ein. Zur weiteren Beschäftigung mit Arbusows Erbe regt Peter Wörsters Beitrag über den Nachlass Arbusows an, wobei verschiedene handschriftliche Materialsammlungen noch heute von Interesse sind.
Trotz der breiten Anerkennung der wissenschaftlichen Leistungen Arbusows wird sein Werk hinsichtlich seiner weltanschaulichen Färbung unterschiedlich bewertet. Klaus Neitmann stellt mehrfach die Objektivität, Unparteilichkeit und Geradlinigkeit Arbusows in den wechselnden politischen und ideologischen Kontexten heraus. So habe "die gelegentliche Aufnahme von [...] Begriffen wie "Rasse" [...] oder "Blutmischung"" nicht den "Kern" der Arbusowschen Forschungen berührt (19, 37). Deutsche und Undeutsche habe er "gleichmäßig zu berücksichtigen gedacht" (57). Kritik an seinen lettischen Historikerkollegen sei stets "sachlich gerechtfertigt" gewesen (64). Selbst 1944 habe Arbusow noch eine "nüchterne Bestandsaufnahme" der Zugehörigkeit Livlands zum Reich verfassen können (71). "Unverändert" habe er sich dann nach 1945 in Göttingen seinen mediävistischen Forschungen gewidmet (37). Insbesondere Ilgvars Misāns und Inna Põltsam-Jürjo äußern abweichende Feststellungen. Misāns postuliert, dass "Arbusows Verhältnis zu den einzelnen lettischen Kollegen [...] von persönlichen Sympathien und Antipathien beeinflusst" war, was sich auch auf seine Rezensionstätigkeit auswirkte (105 f.). Zudem habe Arbusows Interesse an den Themen der lettischen nationalen Geschichte nach seiner Berufung an die Universität Lettlands nach 1922 bzw. in den 1930er Jahren rasch abgenommen (86 mit Anm. 19, 149). Laut Põltsam-Jürjo war Arbusows kulturgeschichtliche Konzeption auf die Oberschichten konzentriert, wobei die bäuerliche Kultur ignoriert wurde (144 ff.). Zugleich hätten seine kulturgeschichtlichen Arbeiten "eine nationale, in der Zwischenkriegszeit zweifellos polemische Dimension" (144). Erst nach 1945 habe Arbusow seine "nationale Beschränktheit" zu überwinden vermocht, indem er mit einem Aufsatz zur Volksliedforschung "Interesse an der lettischen Volkskultur" gezeigt habe (148 f.).
Den Konflikt der unterschiedlichen (nationalen) Perspektiven auf Arbusows Werk und die deutschbaltische Geschichtsschreibung im Allgemeinen löst der vorliegende Band nicht auf. Hierzu hätte es einer eigenen, tiefen Analyse des Verhältnisses Arbusows zu den herrschenden Weltanschauungen und Ideologien seiner Zeit bedurft. [2] Eine solche Analyse hätte die ansonsten einen guten Überblick vermittelnde Zusammenstellung abgerundet. Bereits der freundschaftliche Austausch zwischen Letten, Esten und Deutschen über ihr gemeinsames historiografisches Erbe aber ist ein nicht hoch genug einzuschätzender Gewinn. Der vorliegende Band ist in seiner Gesamtkonzeption als auch in den einzelnen Beiträgen eine gelungene Würdigung Leonid Arbusows.
Anmerkungen:
[1] Anti Selart: Reformacija v Livonii i Livonskaja vojna (1558-1582), in: Baltijskij vopros v konce XV-XVI v., hg. v. Aleksandr I. Filjuškin, Moskva 2010, S. 432-444; Paweł A. Jeziorski: Margines społeczny w dużych miastach Prus i Inflant w późnym średniowieczu i wczesnych czasach nowożytnych, Toruń 2009 (Roczniki towarzystwa naukowego w Toruniu, 94,1); Thomas Lange: Zwischen Reformation und Untergang Alt-Livlands. Der Rigaer Erzbischof Wilhelm von Brandenburg im Beziehungsgeflecht der livländischen Konföderation und ihrer Nachbarländer, Hamburg 2014 (Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa, 21); Eva Eihmane: Rīgas arhibīskapa un Vācu ordeņa cīņas par varu viduslaiku Livonijā, Rīga 2012 (Latvijas Vēstures mazā bibliotēka). Henrike Bolte verteidigte 2013 ihre Dissertation an der Freien Universität Berlin.
[2] Umfassend wird dies auch von neueren einschlägigen Forschungen nicht geleistet: Per Bolin: Between National and Academic Agendas. Ethnic Policies and "National Disciplines" at the University of Latvia, 1919-1940, Huddinge 2012 (Södertörn Studies in History, 13; Södertörn Academic Studies, 51); Błażej Białkowski: Die Utopie einer besseren Tyrannis. Deutsche Historiker an der Reichsuniversität Posen (1941-1945), Paderborn u. a. 2011 (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart).
Madlena Mahling