Todd H. Weir: Secularism and Religion in Nineteenth-Century Germany. The Rise of the Fourth Confession, Cambridge: Cambridge University Press 2014, XV + 304 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-1-107-04156-1, GBP 60,00
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Wolfgang Pentz: Sozialprotestantismus in den USA und Deutschland. Social Gospel und christlich soziale Bewegung bis 1914, München: Martin Meidenbauer 2005
Peter Dinzelbacher (Hg.): Handbuch der Religionsgeschichte im deutschsprachigen Raum. Bd. 5: 1750-1900, hrsg. v. Michael Pammer, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007
Zu den drei religiösen Großbekenntnissen Katholizismus, Protestantismus und Judentum, die im 19. Jahrhundert das spätere Deutsche Kaiserreich prägten, in sich jedoch durchaus sehr divergent waren, gesellte sich, so die These des in Belfast lehrenden Historikers Todd H. Weir, der Säkularismus als vierte Konfession. Vier Grundformen des Säkularismus macht Weir entlang des Jahrhunderts aus: Er unterscheidet Freireligiöse, Freidenker, Kulturethiker und Monisten. Den Bekenntnischarakter sieht er in der Auseinandersetzung mit den religiösen Konflikten der Vormärz-Ära, des Kulturkampfs und der Jahre der Sozialistengesetze sowie dem Antisemitismus der Jahrzehnte um die Jahrhundertwende gegeben.
Ein erstes Signal für den Säkularismus erkennt Weir in der Dissidentenbewegung der Deutschkatholiken, deren Folge das preußische Toleranzedikt von 1847 mit seiner Unterscheidung von persönlicher Freiheit zu Glauben oder Unglauben, korporativen Rechten der staatlich anerkannten Kirchen und den Interessen des christlichen Staates war. Auch wenn die Deutschkatholiken und ihr protestantisches Pendant, die Lichtfreunde, zahlenmäßig marginal blieben, wurde doch der konfessionelle Raum für den Säkularismus geöffnet. Man konnte, so Weir, die Kirche verlassen, ohne in eine neue zu konvertieren.
Auf diesem Hintergrund entstanden säkularistische Weltanschauungen, die bis in die 1930er Jahre relativ stabil blieben. Säkulare Glaubensbekenntnisse fokussierten auf Pantheismus und Monismus, Materialismus und popularisierter Naturwissenschaft. Freireligiöse Praxis führte 1852 zum Ritual der Jugendweihe. Weir stellt die Frage, ob nicht dadurch Atheismus zur Religion wurde.
Säkularismus blieb freilich auf bestimmte Teile der Gesellschaft beschränkt. In Berlin gehörten 1872 zu den Freireligiösen vor allem selbstständige Händler, Handwerker aus dem alten Mittelstand und Hersteller von Massenprodukten. Die Ober- und Unterschichten waren fast gar nicht vertreten. Freie Religiosität war ein Phänomen von Stadtbürgern, deren Weltanschauung auf einer popularisierten Aneignung der Naturwissenschaften zwischen Bildung und Halbbildung beruhte, Absolventen vorwiegend nicht des humanistischen Gymnasiums, sondern der Realgymnasien. Weir analysiert die Berliner Szene mit der Freidenker-Vereinigung Lessing, der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur.
Im Jahrzehnt vor der Reichsgründung, als die ersten politischen Parteien gegründet wurden, wandten sich die Freireligiösen dem linken Liberalismus und der Fortschrittspartei zu, was die gesellschaftliche Integration in Vereinen und Organisationen erleichterte. Auf diesem Weg kamen auch führende Sozialdemokraten wie Eduard Bernstein und Johann Most mit freier Religiosität in Berührung. Zu Beginn des Kaiserreichs fanden sich Freireligiöse auf der sozialistischen, liberalen und konservativen Seite des politischen Spektrums.
Im Vorfeld des Kulturkampfs agierten die Freireligiösen zusammen mit Demokraten und Sozialisten im Moabiter Klostersturm (1869) und radikalisierten im Zusammenwirken mit dem liberalen Protestantismus ihren Antiklerikalismus. Die Sozialistengesetze waren eine gute Gelegenheit, die liberale Hegemonie zu stärken, was zu einem Anwachsen des Antisemitismus führte, gefördert insbesondere durch den Hofprediger Stoecker.
Die "jüdische Frage", die ab 1878 heftig diskutiert wurde, trug nach Weir direkt zur Ausdifferenzierung des organisierten Säkularismus bei. Antisemitisch, völkisch, national auf der einen Seite - philosemitisch und freigeistig auf der anderen Seite: beides fand sich unter den säkular Religiösen.
Im Wilhelminischen Kaiserreich differenzierte sich die religiöse Landschaft der Säkularen noch weiter aus. Der 1900 gegründete Giordano-Bruno-Bund und der 1906 vom Jenaer Biologen Ernst Haeckel ins Leben gerufene Deutsche Monisten-Bund konnten in ihren Kampagnen den Kirchenaustritt von Tausenden Christen erreichen. "Die Welträtsel" (Haeckel) fanden aber auch andere Lösungsansätze, wie die Anthroposophie Rudolf Steiners und säkulare Soziologen und Politiker.
Der Erste Weltkrieg war, und damit resümiert Weir seine Studien, eher eine Verstärkung für die Freireligiösen. Doch ob es wirklich weltanschauliche Entfremdung war oder die Trennung von den christlichen Kirchen auf banalen Motiven wie der Kirchensteuer beruhte oder die massive Propaganda des Vereins der Freidenker für Feuerbestattung war - am Ende führen doch erstaunlich viele Linien zum Nationalsozialismus und dessen "Gottgläubigkeit", die sich als Ergebnis eines hundertjährigen Kampfes gegen die christlichen Konfessionen herausstellt.
Weir hat eine beeindruckende Studie über ein Gebiet vorgelegt, das noch weitgehend zu den unerforschten Feldern gehört. Die regionale Konzentration auf die Hauptstadt kann natürlich dazu verleiten, den Einfluss säkularer Religiosität höher einzuschätzen als er zum jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich war. Doch aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts ist dem Autor Recht zu geben: Der Säkularismus ist zu einer gewichtigen Stimme im Konzert der Weltanschauungen geworden, wenn auch heute in einer weit größeren Differenzierung der Konfessionen und Weltreligionen.
Joachim Schmiedl