Ron Sela: The Legendary Biographies of Tamerlane. Islam and Heroic Apocrypha in Central Asia (= Cambridge Studies in Islamic Civilization), Cambridge: Cambridge University Press 2011, XVIII + 164 S., 1 Karte, ISBN 978-0-521-51706-5, USD 85,00
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The Legendary Biographies of Tamerlane ist ein Erstlingswerk über den Wert fiktionaler Biographien für die Forschung. Ron Sela, der an dem Department of Central Eurasian Studies der Indiana University Bloomington arbeitet, geht dabei der Frage nach, inwieweit anonyme Werke über Tamerlane (Tīmūr, 1335-1404) als Teil von Volkskultur regionale Bedeutung hatten. Grundlegende These der Studie ist, dass die Biographien in Krisenzeiten verfasst wurden und dies sich auf die Art und Weise ausgewirkt hat, wie der Charakter von Tamerlane erinnert und gefeiert wurde.
Basis für die grundlegende Studie von Sela bildet ein Korpus von Dutzenden anonymer Manuskripte aus zentralasiatischen Archiven. Die Schriften umfassen im Durchschnitt 1000 Seiten in persischer oder türkischer Sprache und datieren ab Beginn des 18. Jahrhunderts. Insgesamt stellen die Quellen ausführliche Biographien in Prosa dar, durchsetzt mit einer Vielzahl von Anekdoten und mit folgendem Aufbau: Prophezeiung über Tīmūr, Geburt und Lebensgeschichte, wobei häufig Bezug auf muslimische Autoritäten, insbesondere Sufis genommen wird. Da mit Beginn der UdSSR die Zirkulation und Entstehung solcher Texte aufhören, geht Sela davon aus, dass die "Tīmūrnāma", so der Titel der meisten Handschriften, in Zentralasien als Volksgeschichten dienten.
An dieser Stelle zieht Sela eine Parallele zur Rolle von Tīmūr als Legitimationsspender der indischen Moguldynastie (1526-1858). Ebenso weist er nach, dass die Safawidendynastie in Iran (1501-1722) das kulturelle Erbe von Tīmūr verwendete, wobei Tīmūr dabei in eine Reihe mit Alexander dem Großen (356-323 v.Chr.) und Čingiz Ḫān (gest. 1227) gestellt wird. In dieser Weise fungiert Tīmūr als Legitimität stiftende Figur in Hofchroniken aus dem zentralasiatischen Raum, welche im 16. und 17. Jahrhundert entstanden und sonst keinerlei Informationen zu dem Herrscher beinhalten. Demgegenüber geht Sela von einer umfassenden oralen Tradition aus, welche auf der sogenannten "Autobiographie" von Tīmūr beruht, die aus Indien übernommen wurde. Somit ist das Wiederaufleben der Erinnerung an Tīmūr seit dem 18. Jahrhundert als ein Phänomen zu sehen, welches mit der politischen Unsicherheit in der Region Zentralasien einherging. Diese These korreliert mit der Tatsache, dass aus dem gesamten Zeitraum 16.-20. Jahrhundert keine Forschung zu Tīmūr aus Zentralasien vorliegt, eine diesbezügliche Änderung hat erst mit dem Wiederaufleben des zentralasiatischen Nationalismus mit dem Ende der UdSSR begonnen.
Um seine Eingangsthesen zu prüfen, geht das erste Kapitel "The Origins and Usages of Tīmūr's Heroic Apocrypha" (22-54) auf Aufbau und Quellen der Manuskripte ein. Als Charakteristika für die Einleitungen stellt Sela fest, dass sie voll von Lobpreisungen des Propheten sind und zudem auf die rechtgeleiteten Kalifen als Zeichen für eine islamische Machtlegitimation von Tīmūr verweisen. Außerdem beinhalten die Einleitungen einen Überblick über die genutzten Quellen, z.B. Texte islamischer Historiker, sowie den Stammbaum von Tīmūr, die Zusammenfassung seiner Biographie und den historischen Hintergrund. Sela lokalisiert zwei Manuskriptzyklen, wobei der erste Zyklus zeitgleich mit dem Tod des letzten Shibaniden (uzbekische Dynastie regierte ab 1510 in Zentralasien) 1710 einsetzt, während der zweite Zyklus ab 1790 datiert. Belege für erste Publikationen eines Tīmūrnāma vor 1700 sind bisher nicht existent, die erste gedruckte Publikation erschien 1913 in Taschkent. Könnten die Tīmūrnāma eine Rolle als "Geschichte"/Legitimationsquelle" für die nächste in Zentralasien aktive Dynastie der Aštakhaniden sein?
Bevor die Studie darauf eingeht, befasst sich Sela zunächst mit der Einordnung der Tīmūrnāma in den bisherigen Forschungsstand zu Tīmūr und versucht eine Verortung der Texte in bekannten literarischen Gattungen. Als Grundlage für die bisherige Ignoranz der Tīmūrnāma durch Historiker gibt die Studie an, dass diese zwar unter der Rubrik historische Texte in Manuskriptsammlungen eingegangen sind, jedoch mit dem Label "fiktionale/legendäre Färbung, folkloristisch". Damit leitet Sela zu einer Analyse des Forschungsstandes zu den Tīmūrnāma über. Er stellt fest, dass sein Quellenkorpus keinen Eingang in Literaturüberblicke oder Bibliographien gefunden hat und keine komplette Edition vorliegt. Als einzige Ausnahmen führt Sela die Standardbibliographien von Storey-Bregel zur persischen und zur türkischen Literatur von Hofmann auf. Auch verweist er auf zwei Publikationen von Textfragmenten aus den Jahren 1897 bis 1900.
Fallen die Tīmūrnāma unter das Genre der populären Literatur bzw. was genau versteht der Forschungsstand unter diesem Begriff? Gemäß der Definition von Peter Heath in "The Thirsty Sword: Sirāt ʿAntar and the Arabic popular epic" (University of Utah Press, 1996) kommt Sela zu dem Schluss, dass die Tīmūrnāma zwei Kriterien dieser Gattung erfüllen: Sie behandeln hochangesehene Person (Elite) in populärwissenschaftlicher Form. Gleichzeitig stellt der Autor fest, dass es kaum Nachweise dafür gibt, dass die Tīmūrnāma Teil des Repetoires von Geschichtenerzählern, von Oralität waren, vielmehr vermutet Sela, dass sie eine Facette der Stadtkultur darstellen. Nach der Negativ-Prüfung auf Charakteristiken von Epik und Hagiographie, weit Sela allerdings auf Gemeinsamkeiten mit Sīra-Literatur anhand der Forschung zur Sīrat Baybars hin (z.B. Jean-Claude Garcin (ed.) "Lectures du Roman de Baybars", Marseille 2003). Als Verbindungsglied zwischen dem Tīmūrnāma und der Sīrat Baybars steht dabei der Gedanke von Legitimation in unruhigen Zeiten im Vordergrund.
Mit dem zweiten Kapitel beginnt die genaue Betrachtung des Inhalts der Tīmūrnāma mit den Abschnitten zu Geburt und Kindheit von Tīmūr. Nach einem kurzen Überblick über die Gesamtthematik bietet das Kapitel eine ausführliche annotierte Übersetzung aus den Tīmūrnāma. Entscheidend für die Eingangsthesen von Sela ist jedoch der abschließende Kommentar: So kommt der Autor zu dem Ergebnis, dass die Geburt von Tīmūr nicht als Wunder präsentiert wird, generell scheinen Fakten zweitranging. Als entscheidend betrachtet er vielmehr die Rolle von Prophezeihungen, Träumen und äußeren Umständen, sowie das häufige Auftreten von Sufis und Scheichs - ein typisches Merkmal der gesamten Biographie. Als wichtigen Unterschied zur offiziellen Hofchronik weist Sela zudem auf die herausragende Rolle von Frauen hin.
Als nächstes folgt die Betrachtung der Jugend von Timur anhand ausgewählter Textpassagen. Hierzu zählen vor allem Abschnitte, in denen die Fähigkeiten von Tīmūr, vor allem sein Eignung zum Herrscher, durch Sufis getestet wird, z.B. in der Liebesgeschichte mit einer späteren Hauptfrau von Tīmūr, Saray Mulk, sowie auf seiner Reise nach Buḫara und im Rahmen der dortigen Probleme. Sela betont, dass Tīmūr durchgängig als ein Mensch mit Emotionen präsentiert wird, der für die Allgemeinheit greifbar ist - niemals ein Übermensch. Hinsichtlich der religiösen Situation in den verschiedenen Manuskripten ergibt sich, dass sie die Situation in ihrem Entstehungskontext widerspiegeln.
Das folgende vierte Kapitel befasst sich mit der Darstellung über die Wahl von Tīmūr zum Herrscher und seiner Inthronisierung. Entsprechend wird thematisiert, worauf Tīmūr seinen Anspruch auf Herrschaft gründete und worin er seine Legitimation sah. Als letzten inhaltlichen Aspekt befasst sich die Studie mit Visionen von Tīmūr über den Niedergang seines Reiches unter seinen Nachkommen sowie über das Jüngste Gericht. Die hier verwendete apokalyptische Darstellungweise sieht Sela wiederum als ein Spiegelbild des soziokulturellen Kontextextes zur Entstehungszeit der Texte an. Damit leitet der Autor zum abschließenden sechtsten Kapitel über, welches sich mit folgender Frage befasst: Bilden die Biographien von Tīmūr die gesellschaftliche Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen unter islamischer Herrschaft in Zentralasien ab 1700 ab?
Zunächst stellt Sela fest, dass die Forschung Zentralasien im 18. Jahrhundert als eine im Niedergang begriffene Region ansieht und dieser Zeitraum daher bisher wenig erfoscht ist. Als Beleg für diese Betrachtung nutzt er einen Augenzeugenbericht von ʿAbd al-Karīm Kashmīrī, welcher die Region 1739-1740 als Begleiter des iranischen Herrschers Nādir Schah (1688-1747, reg. 1736-1747). Auch Berichte britischer Händler bestätigen, dass Zentralasien zu Beginn des 18. Jahrhunderts von massiven politischen Änderungen und Krisen geprägt war. Bedingt durch den Niedergang usbekischer Dynastien und den Kollaps des politischen Systems kam es zu einem moralischen und wirtschaftlichen Verfall. War diese allgemeine Untergangsstimmung die Ursache für die Entstehung der Tīmūrnāma? Um diese These auf eine breitere Basis zu heben, vergleicht Sela die Situation in Zentralasien mit der direkten Nachbarregion Iran, wobei er sich auf einen Aufsatz von Ann Lambton beruft ("The Tribal Resurgence and the Decline of the Bureaucracy in Eighteenth Century Persia", in: Studies in Eighteenth Century Islamic History, Eds. Thomas Naff and Roger Owen, Carbondale 1977, 108-129). Als gemeinsames Charakteristikum dieser Recherche kommt Sela zu dem Schluss, dass die Bevölkerung im Großraum Zentralasien/Iran sich intensiv mit der Frage befasste, wer es wert sei zu herrschen - einem zentralen Thema der Tīmūrnāma. Des Weiteren stellt Sela fest, die Bruderschaft der Naqšbandiyya-Muğaddidiyya diese Krise nutzte um sich als neuer stabilisierender Faktor einzubringen - was der großen Bedeutung von Sufis/Scheichs in den Manuskripten entspricht.
Spiegeln also die Tīmūrnāma als volkstümliche Schriften die soziokulturellen Gegebenheiten ihres Entstehungskontextes wieder und steht dies im Widerspruch zu offiziellen Hofchroniken? Sela kommt im Fazit zu dem Schluss, dass beide Textgattungen auf die Krisen in ihrem Umfeld reagieren und diese literarisch zum Ausdruck bringen. Auch zeigt er, dass in beiden Genres die göttliche Legitimation, der Islam, als zentrale Grundlage für Herrschaft angesehen wird. Das Einzigartige der Tīmūrnāma ist jedoch, dass sie den zentralasiatischen Anspruch auf Tīmūr als naturgegebenen Helden dieser Region zementieren und nur im regionalen Kontext zirkulierten.
Die Studie von Sela weist die Tīmūrnāma als eine spezielle Gattung aus, die in einem konkreten historischen Umfeld entstand, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen. Obwohl ihr Gehalt als historische Quellen bezogen auf Fakten zum Leben von Tīmūr zweifellos hinter offiziellen Chroniken zurücksteht, stellen die Tīmūrnāma dennoch bedeutende historische Quellen als Reflexe der Volksstimmung wieder. Dieser Punkt kann als Auftrag an die Forschung betrachtet werden, populärwissenschaftliche/folkloristische Quellen in Zukunft häufiger in Projekte einzubeziehen und ihre Relevanz im Vergleich zu offiziellen Hofchroniken nicht zu unterschätzen.
Tonia Schüller