Livia Cárdenas: Die Textur des Bildes. Das Heiltumsbuch im Kontext religiöser Medialität des Spätmittelalters, Berlin: Akademie Verlag 2013, VIII + 428 S., 173 s/w-Abb., ISBN 978-3-05-006093-4, EUR 79,80
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Die spätmittelalterliche Frömmigkeit war innovativ. Das heißt, sie war immer bereit, neue Medien zu nutzen. Das gilt für den Buchdruck und ganz besonders für die Druckgrafik, speziell für die entstehende Reproduktionsgrafik. Selbstverständlich gab es aber keine irgendwie steuernde Instanz, die diese Innovationsprozesse in eine bestimmte Richtung hätte lenken können. Es gab nur Zentren, die auf andere Zentren einwirkten - meist wohl in nachahmender Konkurrenz. Das wird am Beispiel der Heiltumsbücher schlaglichtartig deutlich. Livia Cárdenas darf das Verdienst beanspruchen, diese Buchgattung erstmals umfassend gewürdigt zu haben.
Obwohl Heiltumsbücher schon länger die Aufmerksamkeit der Forschung erregt haben, gab es bisher noch kein tieferes Verständnis dieser bedeutenden Gattung, denn es fehlten sowohl eine klare Definition des "Heiltumsbuches" als auch - eng damit zusammenhängend - eine Analyse der hier vorliegenden spezifischen Kombination von Text und Bild. Nicht selten versuchte man seit dem 19. Jahrhundert, die Heiltumsbücher gewissermaßen aus der Rückschau zu deuten und sie zu Vorläufern von Sammlungs- und Ausstellungskatalogen (302-309) zu machen. Die tatsächlich gegebenen Ähnlichkeiten deutet die Verfasserin als Analogie, aber nicht als genealogische Abhängigkeit. Stattdessen erkennt sie die Heiltumsbücher als komplexes Produkt der medialen Revolution, die durch die Möglichkeit, Text und Bild zu reproduzieren, ausgelöst wurde (309).
Cárdenas stellt die Publikationsgeschichte der deutschen Heiltumsbücher als umfassende Geschichte eines Mediums dar, d.h. sie beschränkt sich nicht auf die äußeren Daten der jeweiligen Buchprojekte, sondern verbindet diese immer mit spezifischen mediengeschichtlichen und kunsthistorischen Problemen. Basis ihrer Arbeit sind genaue Analysen der betreffenden Druckschriften sowie der einschlägigen Quellen. Wo es möglich war, hat die Verfasserin auch auf ungedruckte und bisher ungenutzt gebliebene Archivalien zurückgegriffen und damit die Kenntnisse zum Thema erheblich erweitert.
Entscheidend für die vorliegende Arbeit ist die Unvoreingenommenheit der Verfasserin. Ihr ist es gelungen, vor der Folie der Sekundärliteratur, mit der sie bestens vertraut ist, eigene Fragestellungen zu entwickeln. Besonders interessiert sie sich für das Verhältnis der Abbildungen in den Heiltumsbüchern zu den jeweiligen Heiltümern, von denen allerdings nur wenige erhalten sind. Sie betrachtet das Heiltumsbuch als ein wichtiges Indiz, von dem aus man generell auf das Verhältnis von Bild und Abbildung im ausgehenden Mittelalter und der beginnenden frühen Neuzeit schließen darf. Wem die alten gedruckten Reliquienverzeichnisse zu exotisch vorkommen, der sollte sich vor Augen halten, für wie viele Problemfelder sie bedeutsam sind.
Das Grundkonzept des Buches verdankt sich der Erkenntnis von der weitgehenden Autonomie der in den Büchern gezeigten Bilder. Immer wieder betont die Autorin, wie wenig die Abbildungen der gedruckten Heiltumsbücher auf die tatsächlichen Heiltümer Bezug nehmen bzw. nehmen müssen. Gerade dieser Punkt macht die Gattung wichtig für die Geschichte des Reproduzierens überhaupt. In den Heiltumsbüchern wird - vereinfacht gesagt - ein Begriff veranschaulicht, aber nur ausnahmsweise ein konkretes Objekt. Gleichzeitig aber dokumentieren die Heiltumsbücher den Übergang von der begriffsbezogenen Repräsentation hin zu einer direkt objektbezogenen, wie die Verfasserin mehrfach belegt. Im Wittenberger Heiltumsbuch sieht man etwa auf Folio 3 verso "Ein glaß Sancte Elysabeth" (168-172), das wie ein übliches spätgotisches Noppenglas aussieht, obwohl es im Weimarer Skizzenbuch mehr oder weniger genau wiedergegeben wurde (fol. 47r), wie der Vergleich mit dem auf der Veste Coburg erhaltenen Stück zeigt.
Als 1509 das Wittenberger Heiltumsbuch gedruckt wurde, war die Gattung auf dem Höhepunkt. Nur etwas mehr als zwanzig Jahre zuvor hatte sie sich in Nürnberg etabliert. Die Reichsstadt zeigte sich auch hier als wichtiges Innovationszentrum. Es bedurfte aber eines besonderen Anlasses für Konzeption und Druck des Nürnberger Heiltumsbuchs. 1486 waren die in der Stadt verwahrten Reichskleinodien zur Krönung König Maximilians nach Aachen gebracht worden. Kaiser Friedrich III. wollte die Gelegenheit der Krönung seines Sohnes nutzen, um die Reichskleinodien den Nürnbergern zu entziehen. Vor diesem Hintergrund war es sinnvoll, eine Publikation herauszubringen, in der die Reichskleinodien ganz selbstverständlich als nürnbergisch erkennbar wurden. Auch wenn in einer Reichstadt wie Nürnberg, die auch schon vor der Reformation ein sehr weitgehendes Kirchenregiment ausübte, weltliche und kirchliche Obrigkeit nicht leicht auseinanderzuhalten waren, war doch das Nürnberger Heiltumsbuch offenkundig ein Projekt der Stadt und nicht des Klerus. Ähnlich verhielt es sich auch an anderen Orten.
Der Nürnberg Druck von 1487 wäre vielleicht ohne Nachfolge geblieben, wenn er nicht in den benachbarten Bischofsstädten Bamberg und Würzburg Konkurrenzdruck ausgelöst hätte, und zwar diesmal durchaus auf die geistlichen Behörden. In beiden Städten wurden jedenfalls Heiltumsbücher veröffentlicht, die erkennbar auf das Nürnberger Buch reagieren. Den speziellen buchgeschichtlichen und buchwissenschaftlichen Fragen, die sich mit der Abfolge dieser Drucke verbinden, widmet sich die Verfasserin ausführlich und mit großer Sorgfalt. Es gelingen ihr dabei wichtige Entdeckungen, dank derer das komplexe Verhältnis der Drucker und der verschiedenen Ausgaben erstmals erkennbar wird. Cárdenas erfüllt alle buchwissenschaftlichen Standards, ohne jedoch die eine oder andere Übertreibung mitzumachen. Sehr zu statten kommt ihr selbstverständlich ihre hervorragende Literaturkenntnis. Sie rezipiert nicht nur die gesamte einschlägige Inkunabelforschung, sondern auch die lokalhistorische Literatur.
Das Buch ist in drei Hauptteile gegliedert: "Die Diversifizierung der Gattung", "Abbildung, Kunstobjekt, Sammlungskatalog: Die Medialität des Heiltumsbuches" und "Die Textur des Buches, Synthesis einer Gattung". Diese Überschriften haben sich dem Rezensenten erst nach der Lektüre der ausgemacht gut lesbaren Kapitel erschlossen. Tatsächlich handelt es sich um begriffliche Verdichtungen, mit denen die Verfasserin die Phasen eines Entwicklungsprozesses charakterisiert, den sie historisch nachzeichnet und gleichzeitig systematisch interpretiert. Gerade dieses Ineinander von historischer und systematischer Betrachtungsweise macht den Reiz des Buches aus.
Untersucht werden alle deutschen Heiltumsbücher, die ein außerordentlich genauer und praktischer Katalog auflistet (325-361). Es sind die Heiltumsbücher von Nürnberg, Bamberg, Würzburg, Wien, Wittenberg und Halle sowie dasjenige von Hall in Tirol, das zwar nicht gedruckt wurde, von dem sich aber das für den unterbliebenen Druck bestimmte Manuskript erhalten hat.
In weiteren Anhängen werden Übersichten zu einzelnen Heiltumsbüchern geboten, z.B. werden Verteilung und Anzahl von Reliquiaren abgeglichen (362-363). Natürlich gibt es auch ein Verzeichnis der Quellen und der Literatur sowie ein Personenregister.
Abschließend seien auch die gute Gestaltung des Buches und seine Bebilderung hervorgehoben. Wo es nur ging, wird die jeweilige Argumentation durch Abbildungen "ad oculos" demonstriert - wie man es nicht nur bei einem Heiltumsbuch erwarten darf, sondern auch bei einem kunsthistorischen Standardwerk, wie es Cárdenas vorgelegt hat.
Christian Hecht