Marika Räsänen / Gritje Hartmann / Early Jeffrey Richards (eds.): Relics, Identity, and Memory in Medieval Europe (= Vol. 21), Turnhout: Brepols 2016, XII + 359 S., 17 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-55502-7, EUR 100,00
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Im vorliegenden Band finden sich zehn Vorträge dokumentiert, die im Rahmen des Seminars "Relics: Creating Identity and Memory in the Middle Ages" im Juni 2009 im Institutum Romanum Finlandiae gehalten worden sind. In einem zeitlichen Rahmen, der sich vom frühen Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit erstreckt, wird der Frage nachgegangen, in welchem Umfang Reliquien identitäts- und gemeinschaftsstiftend wirken konnten. Wie Marika Räsänen in ihrem Vorwort betont, soll Reliquienverehrung als "emotionally charged phenomenon with powerful unifying and distinctive elements" (1) begriffen und der Blick nicht wie so oft ausschließlich auf Eliten gerichtet werden. Doch wird die Forderung nach einer stärkeren Einbeziehung unterer Bevölkerungsschichten nur bedingt eingelöst, was freilich auch nicht sonderlich überrascht. Erzählende Quellen (neudeutsch: "Narrative") sind zentral, privilegieren aber eben zumeist den Blick auf Eliten. Auch wenn in ihnen beispielsweise von großen Menschenaufläufen im Rahmen von Translationen berichtet wird oder sie Predigten erwähnen, die vor "unzähligen Gläubigen" gehalten worden seien, so sagt dies doch wenig über die konkrete Reliquienpraxis aus. Und auch Eingriffe in bzw. réécritures von bereits bestehenden Texten (etwa Translationsberichte) verweisen doch eher auf Elitenphänomene: Änderungen des Wortlauts, Umstellungen oder Ergänzungen im Text wurden mit geistlich-politischer Zielsetzung vorgenommen, die mehr über den Auftraggeber als über den "Empfänger" verrät. Und die Macht des geschriebenen Wortes blieb im Reliquienkult begrenzt: Reliquien konnten beworben und Heiltum schriftlich authentisiert, seine konkret-materielle Präsenz dadurch jedoch niemals ersetzt werden. Gerade das Spätmittelalter wartet hier mit einigen Beispielen auf, die eindrucksvoll belegen, wie selbst schriftliche Propaganda den Zusammenbruch weitgespannter, reliquiengestützter Machtansprüche nicht verhindern konnte.
Nach einem knappen Überblick über den Reliquienkult aus der Feder Arnold Angenendts (Holy Corpses and the Cult of Relics, 13-28) folgen drei große Abschnitte (Narratives and Power; Bishop Saints and Identity; Multiple Memories of St Thomas Aquinas's Body), die mit einigem Interessanten aufwarten können, aber doch eher unverbunden nebeneinander stehen. Auch ist nicht alles neu. Gritje Hartmanns Beitrag über die Translation der hl. Cäcilia durch Papst Paschalis I. im Jahr 819 (Paschal I and Saint Cecilia. The Story of the Translation of her Relics in the Liber Pontificalis, 53-90) ist bereits 2007 in deutscher Fassung erschienen, und auch Jesse Keskiaho schöpft bei seinen Betrachtungen über die Bedeutung von Träumen beim Auffinden von Reliquien (Dreams and the Discoveries of Relics in the Early Middle Ages. Observations on Narrative Models and the Effects of Authorial Context, 31-51) aus bereits andernorts Publiziertem. [1]
Herausragend, weil Neuland erschließend, ist der Beitrag von Martin Bauch, in dem die Reliquienlisten erschlossen und transkribiert werden, die Nicolò Signorili seiner auf Veranlassung Martins V. entstandenen Descriptio Urbis Romae beigab (The Relics of Roman Churches in Nicolò Signorili's Descriptio Urbis Romae, 115-184). Der letzte Teil der Descriptio war der Beschreibung aller Patriarchalbasiliken, Titelkirchen und weiterer Kirchen Roms vorbehalten, in deren Rahmen selbstverständlich auch die Reliquien mit abgehandelt wurden. Zum ersten Mal im Druck erschien die in drei Abschriften des 15. Jahrhunderts erhalten gebliebene Schrift 1953, allerdings unter Verzicht auf die Reliquienlisten von 104 Kirchen, die nicht weniger als ein Drittel des Textes umfassen und umso wertvoller sind, als für das römische 15. Jahrhundert keine weiteren derartigen Listen überliefert sind. [2]
Der bisher vom Großteil der Forschung akzeptierte Entstehungszeitraum der Schrift zwischen 1417-1427 wird von Bauch partiell nach unten korrigiert - zumindest für einige Teile zieht er eine Frühdatierung 1373/74 vor. Sein Hauptargument ist so einfach wie überzeugend: im Eintrag zur Kirche San Lorenzo in Panisperna findet der gesamte Leib der Hl. Birgitta von Schweden Erwähnung - doch bereits 1374 verließ ein Großteil der Reliquien Rom in Richtung Schweden. Die Listen werden auf Grundlage einer Handschrift (Subiaco, Biblioteca Nazionale di S. Scolastica, Archivio Colonna, MS II A 50) transkribiert, und auch wenn "this essay is not more than a contribution to an unfinished debate" (121), so bleibt doch festzuhalten, dass Bauch damit unsere Kenntnis der spätmittelalterlichen Reliquienwirklichkeit Roms entscheidend erweitert. Ausgesprochen nützlich ist ein von ihm zusätzlich erstellter Reliquienindex (172-182).
Die Kulte, die sich an der dalmatinischen Küste im hohen Mittelalter entwickelten, unterschieden sich fundamental von denjenigen im Norden Europas. Dies demonstriert Ana Marinkovič anhand dreier dalmatinischer Reformbischöfe des 11. und 12. Jahrhunderts, Gaudentius von Osor (ca. 1020/30 - ca. 1044/48), Johannes von Trogir (ca. 1062 - nach 1111) und Rainer von Split (1175-1180) (Civic Cults of Local Reformist Bishops in Medieval Dalmatia. Success and Failure, 187-223). Im Aufsatz wird der Frage nachgegangen, in wie weit Abfassung von Viten und Erhebung von Reliquien dieser Bischöfe zum Aufbau bzw. zur Stärkung lokaler, städtischer Traditionen beigetragen haben könnten.
In Tuomas Heikkiläs Beitrag wird eine Grenzregion im äußersten Norden behandelt, die sich erst ab dem 12. Jahrhundert flächendeckend dem Christentum öffnete: Finnland. Ausgehend von der über normative Quellen nicht nachweisbaren Gestalt des hl. Heinrich, des ersten "lokalen" Heiligen und Apostels Finnlands, und seiner in Turku zwischen 1270-90 verfassten Legende, wird dem Prozess des "identity building of and in newly converted regions" nachgespürt (228) (Tracing the Heavenly Pater Patriae of Medieval Finland. The Relics of St Henry of Uppsala, 225-254). Ohne seine Reliquien wäre der Kult kaum populär geworden. Die schriftlichen Zeugnisse legen deshalb großen Wert auf die Schilderung ihres Wanderwegs vom Ort des Martyriums bis hin nach Turku, doch ist bis heute unklar, welche Verbreitungswege sich das Heiltum konkret suchte. Jedenfalls sind mehrere "Heinrichs-Häupter" überliefert, wobei der Autor verkennt, dass selbst eine kleine Reliquie (die noch nicht einmal vom Schädel stammen musste), eingeschlossen in ein Kopfreliquiar, zu einer Schädelreliquie werden konnte (vgl. 242ff.), multiple Häupter also nicht zwangsläufig auf die oftmals beschworenen "Auswüchse" im Reliquienkult verweisen müssen.
Ein Musterbeispiel für die Instrumentalisierung eines Heiligen ist der auf dem Weg zum II. Konzil von Lyon am 7. März 1274 in der Zisterzienserabtei von Fossanova verstorbene Thomas von Aquin. Während Constant Mews Glaubwürdigkeit und Inhalt eines Augenzeugenberichts über die Translation der Thomas-Reliquien von Italien nach Frankreich untersucht (The Historia Translationis Sacri Corporis Thome Aquinatis of Raymundus Hugonis: An Eyewitness Account and its Significance, 257-284), richtet Marika Räsänen den Blick auf eine chronikale Notiz aus Orvieto, in der über einen Halt des Reliquienzugs in der Bischofsstadt berichtet wird. Davon ausgehend entwickelt sie bedenkenswerte Hypothesen zur memoria des Dominikanerheiligen im 14. Jahrhundert (The Memory of St Thomas Aquinas in Orvieto, 285-317). Earl Jeffrey Richards geht schließlich auf die Zielorte der Translation ein: Paris, wo man sich immerhin über einen Thomas-Arm freuen durfte, vor allem aber Toulouse, dessen intellektuelle und politische Strahlkraft durch die Präsenz des Aquinaten nicht unerheblich gesteigert wurde (Ceremonies of Power. The Arrival of Thomas Aquinas's Relics in Toulouse and Paris in the Context of the Hundred Years War, 319-352). Einer der Gründe dafür, dass der Papst der Stadt an der Garonne den Besitz der Thomasreliquien zugebilligt hatte, war die Existenz der dortigen Dominikanerkirche, die zu den schönsten Sakralgebäuden der Christenheit gehörte und gehört.
Der Dominikanerkonvent ist seit langem aufgelöst, Kirche und Kreuzgang musealen Zwecken zugeführt - nur noch einmal im Jahr findet ein Gottesdienst statt, in dem dieses Translationsereignisses feierlich gedacht wird. Die unter dem Altar geborgenen Reliquien werden dazu feierlich erhoben und processionaliter durch die Kirche geführt - ganz wie im Mittelalter. Und wie vor Jahrhunderten nimmt eine Stadtgemeinde daran teil, die zwar nicht mehr unbedingt glaubt, aber von der Bedeutung des Aquinaten für die städtische Identität nach wie vor überzeugt ist.
Summa summarum: ein Sammelband, dem es an innerer Kohärenz mangelt, in dem einiges Altbekannte verhandelt, in dem aber auch über Neuentdeckungen berichtet wird, die die Lektüre insgesamt lohnend machen.
Anmerkungen:
[1] Gritje Hartmann: Paschalis I. und die heilige Cäcilia. Ein Translationsbericht im Liber Pontificalis, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 87 (2007), 36-70; Jesse Keskiaho: Dreams and Visions in the Early Middle Ages. The Reception and Use of Patristic Ideas, Cambridge 2015, v.a. 28-34.
[2] Roberto Valentini: Giuseppe Zucchetti, in: Codice Topografico della Città di Roma, IV (Fonti per la Storia d'Italia; 91), Rom 1953, 151-208.
Ralf Lützelschwab