Martin Thomas: Fight or Flight. Britain, France, and their Roads from Empire, Oxford: Oxford University Press 2014, XVII + 539 S., 23 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-969827-1, GBP 25,00
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Der britische Historiker Martin Thomas legt mit Fight or Flight. Britain, France, and their roads from Empire eine breit angelegte, vergleichende Studie zur Dekolonisation vor. Nicht nur aus vergleichender Perspektive, sondern auch unter Einbeziehung transferhistorischer Momente analysiert er das Ende des britischen und französischen Empires. In diesem Ansatz liegt das Innovative dieser Studie, wurde doch sowohl Vergleich als auch Transfer bis jetzt in der Historiographie der Dekolonisation weitestgehend außer Acht gelassen.
Thomas legt die Kategorien "Fight or Flight" als analytische Sonden an. Dieses aus der Stressforschung entliehene Begriffspaar eröffnet, angewandt auf die spezifische historische Situation der Dekolonisation, die Frage, wie die beiden Kolonialmächte auf die aufkommenden antikolonialen Bewegungen und auf die Forderungen nach Unabhängigkeit reagierten. Thomas geht von der Prämisse aus, am Anfang jedes Dekolonisationskrieges stehe die bewusste Entscheidung, die Eskalation nicht zu verhindern. So schreibt er anhand der Kategorien fight und flight die Geschichte der Dekolonisation als Geschichte des bewussten Zulassens der Gewalt und der Versuche, deren Eskalation zu vermeiden und sich aus den Kolonien zurückzuziehen (1-3).
Anhand dreier Leitlinien geht Thomas dieser Ausgangsthese vergleichend nach. Zum einen stellt er die britischen Antworten auf die antikoloniale Opposition den französischen gegenüber, um der Frage nachzugehen, warum das britische Empire ohne großen Schock untergehen konnte, während das französische Empire erst nach dem acht Jahre andauernden und zu einer außerordentlichen Eskalation der Gewalt führenden Algerienkrieg ein Ende fand. Die zweite Vergleichsebene stellt der regionale Vergleich der Dekolonisationsschauplätze in Asien und Afrika dar. Schließlich werden die jeweiligen antikolonialistischen Oppositionen auf ihre Bereitschaft zum Dialog oder zur Gewaltanwendung hin verglichen. Gebündelt führen diese Vergleichsebenen zur Leitfrage, warum in einigen Gebieten eine Politik der Gewalt dominierte, während in anderen Gebieten friedliche Lösungen gesucht wurden (3). Der Ansatz, den Thomas hier verfolgt, hebt die Dichotomie zwischen "Metropole" und Kolonie auf, legt den Schwerpunkt auf deren Verflechtungen und sucht die Antworten auf die zentralen Fragestellungen in einer Interaktion der Akteure der "Metropole" und den Akteuren der Kolonien (4-5).
Die Untersuchung setzt mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ein, den Thomas als Ausgangspunkt antikolonialer Bewegungen ansieht. Sowohl in Frankreich als auch in Großbritannien reagierte man auf die ersten antikolonialen Aufstände mit einer Mischung aus asymmetrischer Repression und Zugeständnissen an loyale Eliten (11-43). Dass die Antworten Großbritanniens und Frankreichs auf die antikolonialen Herausforderungen sich unterscheiden würden, wurde Thomas zufolge erst während des Zweiten Weltkriegs deutlich. Während Großbritannien nur wenige Ressourcen mobilisiert habe, um das Empire zu bewahren, sei für Frankreich das Empire, wo sich Vichy-Frankreich und Freies Frankreich gegenüberstanden, von zentraler Bedeutung gewesen (44-72). Diese unterschiedliche Bedeutung des Empires stellt einen Erklärungsansatz für den schnellen britischen Rückzug aus Palästina und Indien dar, welchem die französische Entscheidung für die fight-Strategie in Indochina gegenüberstand (96-130).
Allerdings blieb man weder in Großbritannien noch in Frankreich durchgehend einer Strategie treu. Nachdem die Suez-Krise 1956 einen gemeinsamen fight-Moment der Verteidigung imperialer Interessen gegen eine sich wandelnde internationale Meinung darstellte (164-189), griff man auch in Großbritannien insbesondere zur Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstands in Kenia auf fight-Elemente zurück. Gleichzeitig zeigte man in Frankreich am Beispiel Westafrikas, dass ein relativ konfliktfreier Transformationsprozess möglich war (241-260). Insgesamt setzte sich jedoch in Frankreich die fight-Strategie durch und antikoloniale Bestrebungen wurden mit einer Repression von außergewöhnlicher Brutalität beantwortet. Dies hatte sich bereits in Indochina 1945-1954 gezeigt, wurde bei der Niederschlagung der antikolonialen Aufstände in Madagaskar im Jahr 1947 deutlich und trat schließlich 1954-1962 im Kampf gegen den FLN (Front de Libération Nationale) in Algerien so zu Tage, dass sowohl international, als auch in Frankreich selbst Kritik an den von der französischen Armee begangenen Menschenrechtsverletzungen laut wurde (285-337).
Thomas kommt zu dem Schluss, dass der entscheidende Unterschied zwischen der französischen und der britischen Antwort auf die Herausforderung der antikolonialen Bewegungen darin lag, dass man in Großbritannien schneller zum Rückzug aus den Kolonien bereit gewesen sei. Meist hätte insgesamt die Bereitschaft, den Rückzug zu verhandeln, eine Gewalteskalation verhindert, jedoch habe sich Großbritannien teils zu schnell und hastig zurückgezogen und dadurch die Eskalation der Gewalt provoziert. Thomas verweist hier auf den jeweils schnellen Rückzug Großbritanniens aus Palästina und Indien, der verbunden mit Grenzziehungen entlang vermeintlich ethnischer oder religiöser Trennlinien noch heute spürbare Konsequenzen nach sich zog. (368) Hiermit betont Thomas die Aktualität dieser Geschichte. Auch für Großbritannien und Frankreich seien noch heute Konsequenzen spürbar. Mit den postkolonialen Migrationsströmen sei hier nur die Bedeutendste genannt (355-358).
Den Unterschied in den britischen und französischen Antworten auf die antikolonialen Bewegungen erklärt Thomas nicht monokausal, sondern bezieht die verschieden gearteten wirtschaftlichen Interessen, die jeweiligen spezifischen politischen Konstellationen in Großbritannien und Frankreich sowie Entscheidungen und Auftreten einzelner Militärs als auch Interessen und Einfluss der jeweiligen Siedler mit ein. Gleichzeitig bettet er all dies in den gemeinsamen Rahmen einer sich wandelnden internationalen Stimmungslage, in welcher das Selbstbestimmungsrecht der Völker an Bedeutung gewann, sowie in den Kontext des Kalten Krieges ein. Auch das Handeln der jeweiligen antikolonialistischen Oppositionen lässt Thomas nicht außer Acht.
Die besondere Stärke des Werkes liegt darin, dass die Analyse stets über die Vergleichsebene hinausgeht und den Transfer berücksichtigt. Nicht nur anhand des recht offensichtlichen Beispiels der Suezkrise wird deutlich gemacht, wie die britischen und französischen Interessen teils korrelierten, teils divergierten und wie man versuchte von dem jeweils anderen zu lernen, so dass Thomas zu dem Schluss kommt, "that Britain and France travelled their difficult roads from empire together" (370).
Anna Laiß