Alexander Gallus (Hg.): Helmut Schelsky - der politische Anti-Soziologe. Eine Neurezeption, Göttingen: Wallstein 2013, 243 S., ISBN 978-3-8353-1297-5, EUR 24,90
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Wenn Frankreich das Paradies der Intellektuellen ist, so sind die Vereinigten Staaten ihre Hölle. Das jedenfalls hat Raymond Aron 1955 in L'Opium des intellectuels festgestellt. Das Land, das am vernünftigsten mit seinen Intellektuellen umgehe, sei Großbritannien, denn, wie Denis Brogan gesagt habe: "We British don't take our intellectuals so seriously." [1] Derselbe Aron reihte die Bundesrepublik zwei Jahre später in einem Essay über den Konservatismus in den westlichen Industriegesellschaften in die Riege der "démocraties apaisées" ein, deren Blaupause für ihn England und die Vereinigten Staaten waren. [2] Betrachtet man das Verhältnis von Politik und Geistesleben in der Bundesrepublik, kann man den Eindruck gewinnen, dass das junge Provisorium auch im Umgang mit seinen Intellektuellen eher den angelsächsischen Beispielen folgte als dem französischen. Und warum auch nicht? Wer hätte übersehen können, dass es in der Bundesrepublik niemanden gab, den die Mächtigen mit Voltaire vergleichen konnten. Es gab kaum freischwebende Großintellektuelle, dafür aber umso mehr Professoren, die lieber öffentliche Intellektuelle gewesen wären als Gelehrte und an diesem Spagat scheiterten. An kaum einer Karriere lässt sich das besser ablesen als an derjenigen Helmut Schelskys. Wer einmal politischer Intellektueller sein wollte, dann wieder Kritiker der Intellektuellen, einmal Soziologe, dann wieder "Anti-Soziologe", der musste am Ende seine Wirkung verfehlen. Das führt jetzt ein von Alexander Gallus herausgegebener Sammelband vor Augen, der auf einer Tagung beruht, die im Oktober 2012 anlässlich von Schelskys hundertstem Geburtstag in Chemnitz stattfand.
In vierzehn Beiträgen versuchen die Autoren, Antworten auf zwei leitende Fragen zu geben: Welchen bedeutsamen Beitrag leistete Schelsky zum westlichen politischen Denken? Und welchen Stellenwert hat er in der Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik? Antworten auf die erste Frage finden sich vor allem in Frank Schales Aufsatz über Schelskys Hobbes-Interpretation und in Ellen Thümmlers Beitrag zu Schelskys Demokratieverständnis. Schale kann überzeugend darlegen, dass Schelsky in seiner Habilitationsschrift über Hobbes dessen politische Philosophie ausgehend von einem reduktionistischen Politikbegriff verformte, um sie in den Dienst eines "voluntaristisch-kollektivistischen Aktionismus" (153) zu stellen. Diese Haltung erkläre auch Schelskys frühe Begeisterung für den Nationalsozialismus. Seine Hobbes-Interpretation, so Schale, müsse als totalitär bezeichnet werden. Das ist ein strenges Urteil, dessen eigentliche Bedeutung erst zusammen mit Ellen Thümmlers Ausführungen über Schelskys Idee einer "Demokratie der Sachlichkeit" (206) zutage tritt. Denn dieses Konzept ist aus Thümmlers Sicht nichts anderes als "das Modell eines Obrigkeitsstaates unter dem Deckmantel der Sachlichkeit, der Züge einer Herrschaft berufender Gelehrter trägt". (218) Schelskys "Festhalten an einer technokratischen Institutionentheorie" führe "ins politische Nirgendwo, da seine Prüfungsgewalt der Sachlichkeit außerhalb des demokratischen Rechtsstaates liegt". (220)
Eine gemeinsame Betrachtung beider Befunde zerstreut die Sorge, man könne Schelsky Unrecht tun, wenn man ihn vor allem im Lichte seines Spätwerks deute. Er begann als Gegner der liberalen Demokratie und gehörte am Ende seines Lebens, um das Mindeste zu sagen, nicht zu ihren entschiedenen Verteidigern. Es gibt ja einen Unterschied zwischen der notwendigen Kritik an den politischen Formen und Zielen der Achtundsechziger und der Ansicht, die liberale Demokratie sei als Ursprung dieses Denkens das eigentliche Problem. Indem Schelsky diesen Schluss zog und behauptete, der Bundesrepublik drohe die Herrschaft einer "Priesterschaft der Intellektuellen" [3], die sich nur von einem Standpunkt außerhalb des liberalen Systems abwenden lasse, offenbarte er, dass er dem Radikalismus des Geistes, den er zu bekämpfen vorgab, gar nicht so fernstand.
Schelskys Neigung zum Radikalen wirft die Frage nach seinem Konservatismus auf, die zumindest in einem Beitrag des Bandes gestellt wird. Sebastian Liebold vergleicht Schelsky mit Bertrand de Jouvenel, um zu beweisen, dass sich deutsche und französische Konservative zwischen den 1930er und 1960er Jahren von eifrigen Planern zu Skeptikern gewandelt hätten. Allerdings erklärt er dem Leser, dass beide in der Phase ihres "Planeifers" gar keine Konservativen gewesen seien. Das ist richtig. Schelsky war ein Anhänger der "Konservativen Revolution", der das Substantiv weit wichtiger nahm als das Adjektiv und von 1932 an mit Haut und Haar dem Nationalsozialismus verfiel. Wenn er zu dieser Zeit für wirtschaftliche und gesellschaftliche Planung eintrat und sich später als Skeptiker darstellte, dann kann man vielleicht von einer Veränderung seiner persönlichen Ansichten sprechen, aber kaum von einem Wandel seines Konservatismus. Wie soll sich etwas wandeln, das es zunächst gar nicht gab?
Darauf kann Liebold ebenso wenig eine Antwort geben, wie er seinen Ausführungen einen analytischen oder aus den Quellen gewonnenen Konservatismusbegriff zugrunde legt. Die Fehlschlüsse, die dieses Versäumnis nach sich zieht, lassen sich im Falle Jouvenels noch besser beobachten. Denn wie will man es rechtfertigen, ihn einen Konservativen zu nennen? Seit 1925 Mitglied des Parti radical, verortete sich der mondäne Journalist auf dem linken Flügel der Partei und glaubte an die Notwendigkeit, die Republik zu erneuern und die Wirtschaft zu planen - Auffassungen, die er nur wenig modifizieren musste, als er 1936 zum faschistischen Parti populaire français Jacques Doriots wechselte. 1938 verließ er die Partei bereits wieder wegen Doriots Befürwortung des Münchner Abkommens und ging schließlich 1943 ins Schweizer Exil, wo er sich zum politischen Liberalen wandelte. Vielleicht lässt sich sagen, dass der Liberalismus seiner späteren Zeit eine konservative Färbung hatte. Aber angesichts seiner Begeisterung für die Futurologie und seine Unterstützung François Mitterands kann das wohl nur eingeschränkt gelten.
Tatsächlich hat ein Vergleich zwischen Schelsky und Jouvenel keinen Sinn, wenn man nach "Transformationen des Konservatismus" (50) im 20. Jahrhundert fragt, sondern nur wenn man die Verführbarkeit der Intellektuellen durch politische Ideologien zum Thema macht. Wie Jouvenel war auch Schelsky ein "voyageur dans le siècle" [4], dessen Bedeutung weniger in der Geschichte des politischen Denkens zu suchen ist als in einer Geschichte des Intellektuellen in der Demokratie. Mehrere Beiträge des Bandes - etwa diejenigen von Alfons Söllner und Nikolai Wehrs - zeigen, dass Schelsky aus den intellektuellen Debatten der Bundesrepublik nicht wegzudenken ist und welchen Einfluss er im Hintergrund auszuüben vermochte.
Dieses Wirken muss heute als Kehrseite seines politischen Denkens erscheinen. Schelsky hat sich in einer Weise an den geistig-politischen Kämpfen seines Jahrhunderts beteiligt, die sowohl ihn als Person als auch sein Denken ganz an diese Zeit bindet. Wer wie Clemens Albrecht empfiehlt, man solle Schelsky darin folgen, "Soziologie als institutionalisierte Dauerreflexion zu betreiben, die immer ein klein wenig weiter denkt als das soziale Bewusstsein" (99), sollte deshalb nicht ausblenden, dass Schelsky vielleicht gerade wegen dieser Haltung allzu leicht bereit war, den "Versuchungen der Unfreiheit" (Ralf Dahrendorf) nachzugeben. Der vorliegende Sammelband vermittelt einen Eindruck davon und lädt dazu ein, Schelskys Ort in der deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts genauer zu bestimmen.
Anmerkungen:
[1] Raymond Aron: L'Opium des intellectuels. Introduction de Nicolas Baverez, Paris 2002 (erstmals 1955), 244.
[2] Ders.: Espoir et peur du siècle. Essais non partisans, Paris 1957, 59.
[3] Helmut Schelsky: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterschaft der Intellektuellen, Opladen 1975.
[4] Bertrand de Jouvenel: Un voyageur dans le siècle, Paris 1979.
Matthias Oppermann