Linda Clark / Carole Rawcliffe (eds.): Society in an Age of Plague (= The Fifteenth Century; XII), Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2013, X + 223 S., ISBN 978-1-84383-875-3, GBP 60,00
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Carole Rawcliffe: Urban Bodies. Communal Health in Late Medieval English Towns and Cities, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2013
Die Pest ist seit Jahren eines der beliebtesten Forschungsfelder der Medizin- und Sozialgeschichte. Während individuelle Verhaltensmuster, Infektionstheorien, gesellschaftliche Reaktionen oder behördliche Anordnungen sich immer wieder entsprachen (erstmals 1348 in Venedig oder Florenz umgesetzte Maßnahmen der Behörden scheinen, wenn auch modifiziert, bis ins 17. Jahrhundert wegweisend gewesen zu sein), lassen sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit doch geographisch-topographisch oder (sozial)politisch bedingte Besonderheiten herausarbeiten, die sich für Hafen- und Handelsstädte, Kloster- und Wallfahrtsorte, Residenzen, Provinzorte und Dörfer, wo die Quellenlage in der Regel besonders schwierig ist, weiter differenzieren lassen.
Dies unterstreichen exemplarisch die vorliegenden Aufsätze von zehn englischen Wissenschaftler/innen. Zwei Beiträge zeigen die Beziehungen von sozialen Strukturen und gesundheitspolitischen Initiativen der Stadt Norwich im 15. Jahrhundert, deren Einwohnerzahl sich nach 1348 um mehr als zwei Drittel reduziert hatte, die aber im 16. Jahrhundert - wohl eine Folge seuchenpolitischer Reformen - als vorbildlich gesund und sauber galt (Samantha Sagui). Offensichtlich gab es hier (und nicht nur in Italien!) schon vor 1500 effektive Gesundheitsbehörden, deren Personal, wie Elizabeth Rutledge in ihrer Analyse herausgearbeitet hat, maßgeblich durch die Mittelschichten geprägt wurden.
Ein weiterer Aufsatz handelt vom Seuchen-Management in nordfranzösischen Kommunen, wobei naturgemäß Paris mit seinen berühmten, von Italien aus beeinflussten Hospitälern im Mittelpunkt steht (Neil Murphy). Ergänzend findet man Beiträge zum aktuellen Forschungsstand der Geschichte der Quarantäne und ihrer öffentlichen Organisation in Venedig, Mailand und anderen europäischen Zentren (Jane Stevens Crawshaw), zu einem Danse-Macabre-Gedicht, das im frühen 15. Jahrhundert durch den Kleriker John Lydgate, den ersten englischen "poeta laureatus", aus dem Französischen ins Englische übersetzt wurde (Karen Smyth), zur Beziehung von Pestausbrüchen einerseits und klimatischen sowie wirtschaftlichen Veränderungen andererseits in Canterbury, aber auch zur Rolle der schon zu Chaucers Zeiten überquellenden Pilgerströme ans Grab des Hl. Thomas Becket (Sheila Sweetinburgh). Elma Brenner untersuchte die Versorgung von Leprakranken in Rouen mit genauer Beschreibung und Analyse der entsprechenden Hospitäler sowie der für die öffentliche Gesundheit relevanten Institutionen. Es kann kein Zweifel bestehen, dass durch das Management der Lepraversorgung wertvollste Erfahrungen auch für den Umgang mit Pestkranken gewonnen wurden, obgleich die Infektiosität beider Seuchen kaum vergleichbar erscheint. Etwas traditioneller - denkt man an die umfangreiche Forschung der letzten Jahrzehnte - erscheint der Beitrag zum behördlichen und privaten Umgang mit Seuchen in der italienischen Renaissance, wobei die "French Disease", also die Syphilis samt der für die Krankheit spezialisierten "Ospedali degli Incurabili" (von denen dasjenige in Venedig das berühmteste war), besondere Aufmerksamkeit erfährt (John Henderson).
Die Zusammenfassung der erstaunlich komplizierten, von den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg reichenden Entdeckungsgeschichte des Pathomechanismus der Pest konfrontiert den Leser mit neuesten Erkenntnissen aus der Geschichte der Bakteriologie sowie aktuellen Pesttheorien (der Autor, Samuel K. Cohn jr., hegt eine bemerkenswerte Sympathie für den naturalisierten Franzosen Alexandre Yersin, der sich in wissenschaftlicher Konkurrenz zum "deutsch-japanischen Kontingent" um Shibasaburo Kitasato befand, das die Forscher aus dem Pasteur-Institut angeblich unfair benachteiligt, ja schikaniert haben soll). Der Kampf gegen die Seuche war in jeder Beziehung dramatisch. Es ist heute kaum bekannt, dass es in den Kolonien der Engländer zwischen 1898 und 1900 regelrechte Aufstände gegen das harte, utilitaristisch legitimierte Durchgreifen der Gesundheitsbehörden gab. Cohn vertritt im Übrigen die These, dass die "Pest" des Mittelalters und der Frühen Neuzeit nicht durch "Yersinia pestis" hervorgerufen worden sei und versucht dies durch zeitgenössischer Dokumente zu unterstreichen.
Allerdings bleiben wichtige Fragen offen, da die Quellen des 14. bis 16. Jahrhunderts, nicht nur was Ausbreitungsgeschwindigkeit, Mortalität, Letalität und klinische Symptomatik der Seuche, sondern auch Überlebenswahrscheinlichkeit, Hygienezustand und ärztliche Therapieansätze angeht, recht unterschiedliche Interpretationen erlauben. Vergleiche mit heutigen Seuchenbildern - auch der Pest selbst - verwirren eher. Tatsächlich wurde die Seuchengeschichte, wie Cohn zu Recht bemerkt, in den letzten Jahren zeitweise durch "Genetiker, Pathologen, Mikrobiologen, Archäologen, Osteoarchäologen, Mathematiker, Statistiker, Anthropologen, DNS-Spezialisten und so weiter" bestimmt, die im interdisziplinären Ansatz wichtige Impulse geben konnten, während quellenorientierte Historiker im klassischen Sinn fast schon auf dem Rückzug waren (195).
Während man lange Zeit eine Abschwächung des Bakteriums (eine alte medizinhistorische Erfahrung, die sich an vielen historischen Seuchen beweisen lässt), die zunehmende Hygiene (zumindest in Europa) und bestimmte Veränderungen innerhalb der Rattenpopulationen als Ursache des Pestrückgangs in Europa sah, postulieren viele Forscher inzwischen eine bis heute nicht genau geklärte genetische Variante von Yersinia Pestis als Ursache verschiedener Verläufe. Dass die Erreger von 1348 (im englischsprachigen Bereich als "zweite Pandemie" bezeichnet) und 1895 in Hongkong, wo Yersin das Bakterium entdeckte ("dritte Pandemie"), nicht identisch sein konnten, wird vor allem von englischsprachigen Autoren vermutet. Nicht minder wahrscheinlich erscheint es freilich, dass der genetische Faktor, was die Prägung und Durchschlagskraft einer bestimmten Pestwelle angeht, nur einer unter vielen (darunter klimatischen oder sozialen) ist.
Die dargebotenen Aufsätze lohnen die Lektüre nicht nur für Seuchenforscher. Sie vermitteln, von zahlreichen neuen, quellenmäßig belegten Fakten abgesehen, wichtige Einsichten in die Methoden modernster Seuchengeschichtsschreibung, in der sich, was lange eher verpönt war, Geistes- und Naturwissenschaften die Hand reichen.
Klaus Bergdolt