Carole Rawcliffe: Urban Bodies. Communal Health in Late Medieval English Towns and Cities, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2013, XIII + 431 S., 28 s/w-Abb., 4 Ktn., ISBN 978-1-84383-836-4, EUR 78,95
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Um es gleich zu sagen: Carole Rawcliffe ist hier ein großer Wurf gelungen. Unter dem Schlagwort der "Urban Bodies" subsumiert sie de facto alles, was im spätmittelalterlichen England nach gängiger Laien- oder Ärztemeinung zur Gesundheit der Bevölkerung und zum Gelingen des Gemeinwesens beitrug. Das Resultat ist ein beachtlicher kulturgeschichtlicher Überblick. Der Seuchen- und Gefahrenalltag, das kommunale Management, das Bettelwesen, die Rolle der Handwerker und anderer Berufe hinsichtlich der Krankheitsentstehung und Seuchenausbreitung, die bereits im Corpus Hippocraticum zitierte Umweltfrage, Theorien der Umweltschädigung (die Gesellschaft schwankte hier offensichtlich zwischen gottergebener Passivität und revolutionärem Aufbäumen), das "gesunde" Essen und Trinken, die Kriterien von Krankheiten und "Schwäche", die Qualität von Latrinen und der Abwasserentsorgung, die städtische Hygiene im modernen Sinn (inklusive der Isolierung Seuchenkranker), die Bepflasterung und Reinigung der Straßen und Plätze, die Verpflichtungen der Anwohner zur Reinhaltung und natürlich die Rolle der Ärzte und ihrer diversen Schulen werden ausführlich diskutiert. Nach Rawcliffe wurden die zum Teil sehr intensiven Bemühungen der spätmittelalterlichen Kommunen, eine beachtliche Alltagshygiene zu verwirklichen, bis heute immer wieder unterschätzt. Mahnungen zu einer gezielten privaten Körperhygiene spielten eine gewichtigere Rolle und waren häufiger, als man bisher dachte. Ärzte und Gesundheitsbehörden arbeiteten hier Hand in Hand. Auch die Geistlichkeit klärte auf - die "Gesundheitspädagogik" war nicht zuletzt ein Thema der Kanzelpredigten!
Allerdings waren solche Aufklärungskampagnen angesichts der verbreiteten Mäuse-, Ratten- und Ungezieferplage auch notwendig. Nicht gerechtfertigt erscheint im Übrigen die im 20. Jahrhundert von Le Corbusier und anderen (21) propagierte These, die alten Städte seien eher planlos, durch Zufall und aufs Geradewohl, in der Spur von Eselspfaden und entlang von Bächen entstanden. Jede sinnvolle Gesundheitspolitik sei so schon auf Grund der bizarren Topographie im Keim erstickt worden. Jüngste Entdeckungen, etwa in Norwich, beweisen, wie Rawcliffe zeigen konnte, schlicht das Gegenteil. Dies wirkte gerade in der englischen Forschungslandschaft überraschend, wo die Neuzeit und das "Gute", wie die Autorin selbstkritisch vermerkt, traditionell erst mit Heinrich VIII. beginnen und die "ten dark centuries" mit einer angeblich höchst niedrigen Hygiene (und vielen anderen Negativa) verbunden blieben... Aber schon in den vielen Städten Kontinentaleuropas, wo die Grundrisse sich häufig auf Grund römischer Stadtplanungen entwickelten (und keineswegs "zufällig"), muss die These Le Corbusiers absurd erscheinen. Sarkastisch könnte man darauf verweisen, dass die hier angesprochene zerstörerische Planlosigkeit eher in einigen durch Bomben zerstörten, nach dem Zweiten Weltkrieg quasi neu errichteten deutschen Städten verwirklicht worden sind, wo Stadtplaner und Architekten gewachsene (römische) Straßenzüge gerne - wie etwa in Köln - durch Schneisen zerstörten und alte Fassaden radikal entfernten. Dass ein hässliches Ambiente etwas mit Gesundheitsstörung und Kriminalität zu tun hat, wurde ausgeblendet. Es spricht einiges dafür, dass man im Mittelalter hier besser informiert war!
Von Bedeutung war bei Ärzten wie bei Behörden besonders die Vorstellung der "verdorbenen Luft", die durch antike, im arabischen Mittelalter modifizierte Theorien variiert wurde. Die Autorin weist darauf hin, dass die klassische Miasmen-Vorstellung schon vor 1348 durch weitere aus der Antike übernommene Konzepte relativiert worden war (Spiritus, Pneumata, Wärme, Sex, res non naturales, Eukrasia u.a.). Die medizinische Theorie war stets im Fluss. Behörden, Obrigkeiten, Klerus, Universitäten, Spitalträger hatten sich immer wieder umzuorientieren. Die Aufgaben waren atemberaubend, es ging oft genug um Leben und Tod, Hunger und Durst, körperliche und seelische Unversehrtheit. In mittelalterlichen Städten und Dörfern musste man, vom Schutz gegen zahllose äußere Feinde abgesehen, streunende Hunde, Schweine und Füchse, Mäuse und Ratten eindämmen, Tierkadaver entsorgen und Exkremente entfernen lassen, was wiederum eine beachtliche Organisationsfrage darstellte. Dazu kam die Planung der Leichenentsorgung, die ja nicht nur um die bürgerlich-kirchliche Beerdigung kreiste. Der Gestank aus Handwerksbetrieben (Färber, Gerber, Metzger), das Rauchgemisch der Schornsteine, stehende Gewässer wie Pfützen und Tümpel, die Reinhaltung der Zisternen, in die auch Abwasser gegossen wurde, schufen weitere Probleme. Sie konnten im Umfeld von Kriegen, Seuchen, Hungersnöten, Mangelernährungsphasen, Unwetterkatastrophen und Migrationswellen stets zu einer existentiellen Herausforderung werden. Die medizinischen Theorien mussten ausnahmslos pessimistisch stimmen.
Der Leser wird aber auch mit Überraschungen konfrontiert. Während bei Hofe die Köche bei der Ausarbeitung der Mahlzeiten nicht selten mit den fürstlichen Leibärzten kooperierten, scheint auch sonst die Küche von höherer Qualität gewesen zu sein, als man lange angenommen hat. Gewürze dienten keinesfalls nur der Camouflage von verdorbenem Fleisch oder fauliger Grundnahrungsmittel. Man aß nicht einfach, was einem in den Sinn kam, sondern hielt sich durchaus an diätetische Traditionen. Das Spitalwesen erhielt seine Qualität gerade durch die Küche! Marktplätze und Märkte, wo Lebensmittel verkauft wurden, wurden von den Behörden kontrolliert und reingehalten. Die berühmten Impressionen Brueghels mit ihren Darstellungen des schmutzigen Alltags lassen sich nicht zurückdatieren und schon gar nicht verallgemeinern!
Carole Rawcliffe, die zuvor bereits ein wichtiges Werk über die Aussätzigen in England veröffentlicht hat, schließt ihr Buch mit einer interessanten Chronologie der Epidemien und Seuchen in England nach 1257, als in Bury St. Edmunds über 2000 Menschen starben. Die Aufstellung zeigt indirekt, wie viele Seuchen die Zeitgenossen bedrohten - die Pest war nur eine davon. Oft wurden die Epidemien nicht näher modifiziert - wie sollten sie auch!
Wer sich mit der Alltagskultur der städtischen Bevölkerung im England des späten Mittelalters auseinandersetzt, kann auf dieses sehr flüssig geschriebene Buch kaum verzichten. Nicht nur die traditionelle Seuchengeschichte mit ihren Schwerpunkten Pest und Lepra steht im Mittelpunkt, sondern ein bunter Strauß hochinteressanter Themen, um die die Organisation der spätmittelalterlichen Stadt kreiste.
Klaus Bergdolt