Alfred Eisfeld / Guido Hausmann / Dietmar Neutatz (Hgg.): Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa (= Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa; Bd. 39), Essen: Klartext 2013, 384 S., ISBN 978-3-8375-0783-6, EUR 39,95
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Dem erinnerungsträchtigen 100. Gedenkjahr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs vorgreifend, legen Alfred Eisfeld, Guido Hausmann und Dietmar Neutatz 16 Referate einer im Oktober 2008 durchgeführten internationalen Konferenz zur Politik der Krieg führenden Großmächte im Osten Europas gegenüber der dortigen Zivilbevölkerung vor. Die Herausgeber versuchen so, "die auf unterschiedliche regionale Wissenschaftscommunities verstreute Forschung zu den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf das östliche Europa im Sinne einer synoptischen Analyse zusammenzuführen und auf diese Weise die von der Forschung unterbelichtete Problematik der Zivilbevölkerung ins Blickfeld zu rücken" (20). Es gelingt ihnen, dem selbstgesetzten Anspruch gerecht zu werden, wenngleich angesichts der Komplexität des Themas naturgemäß nur ausgewählte Gesichtspunkte vorgestellt werden konnten.
Den thematischen Teilaspekten vorangestellt ist Reinhard Nachtigals Überblick über die Kriegsziele der Mittelmächte, Russlands und Englands. Er hebt hervor, dass es sowohl Kriegsziele gab, die bereits bei Kriegsbeginn formuliert wurden und auf langfristige, im Wesentlichen imperialistische Bestrebungen zurückgingen, als auch solche, die während des Krieges eher beiläufig formuliert wurden. Einen besonderen Fall stellte Russland dar, das neben seinen imperialistischen Ansprüchen auch ein nach innen, gegen eigene Staatsangehörige gerichtetes Kriegsziel verfolgte: die Enteignung von Bauern und Unternehmern deutscher Abstammung.
Die anschließenden Beiträge stellen jene Bevölkerungen in den Mittelpunkt, die besonders stark von den kriegsbedingten Maßnahmen betroffen waren: Deutsche, Polen, Ukrainer und Juden, womit auch die regionale Konzentration auf Polen und die Ukraine korrespondiert. Dabei gilt das Interesse einerseits den militärischen Repressions- und Zwangsmaßnahmen gegenüber den vermeintlich feindseligen Ausländern beziehungsweise den der Unzuverlässigkeit bezichtigten nationalen Minoritäten, andererseits der werbenden Politik der Kriegsmächte gegenüber der Bevölkerungsmehrheit im okkupierten Gebiet. Matthew Stibbe zeichnet die Brutalisierung des Kriegsgeschehens anhand von Deportation und Internierung von sogenannten "Spionen" aus den Randgebieten der Donaumonarchie nach, die neben Serben, Ruthenen und Italienern vor allem die Juden betrafen. Bei diesen Volksgruppen handelte es sich nicht um Feindstaatenausländer, sondern um Angehörige des Habsburgerreichs, die von der österreichisch-ungarischen Militärführung für deren Misserfolge auf den Kriegsschauplätzen Galiziens verantwortlich gemacht wurden. Interesse wecken die sich eher ergänzenden Beiträge von Pascal Trees und Sergej Nelipovič über die Deportation deutscher Landbevölkerung aus Russisch-Polen 1914/15, da beide größtenteils auf demselben Quellenfundus basieren. Trees und Nelipovič verorten die Hauptinitiatoren dieser "Aussiedlung" übereinstimmend bei der obersten Heeresleitung, akzentuieren deren Motivation jedoch unterschiedlich. Trees sieht den primären Beweggrund in der "Spionageparanoia" (229) der zurückweichenden russischen Militärs, die in den deutschen Kolonisten Schuldige für ihre Niederlagen ausmachten und sich so dem öffentlichen Druck zu entziehen suchten. Dagegen betont Nelipovič neben dem Vorwand der Spionage den ökonomischen Aspekt, da man sich parallel zur Deportation mit der Frage befasste, wie der Grundbesitz der Ausgesiedelten unter russische Kontrolle überführt werden konnte. Den repressiven Umgang mit der deutschen Minderheit im Inneren des Russischen Reiches behandeln Svetlana Bobyleva und Oksana Beznosova. Beide führen aus, dass der Krieg den bereits in den Jahrzehnten zuvor angewachsenen Ressentiments gegenüber den Deutschen in der russischen Gesellschaft vollends zum Durchbruch verholfen habe, was durch die verschärfte soziale Konkurrenzsituation bedingt worden sei. So beschreibt Bobyleva die russisch-deutsche Konkurrenz innerhalb der russischen Gesellschaft, wo Deutsche vielfach aufgrund ihrer erfolgreichen Stellung und Präsenz in zunehmende Rivalität mit den russischen Bewohnern gerieten.
Der zweite Kreis von Beiträgen untersucht Maßnahmen und Handlungen, die auf eine politische Stabilisierung und Kontrolle der eroberten Gebiete zielten, nicht zuletzt deshalb, um diese wirtschaftlich auszubeuten. Wolfram Dornik verweist auf die komplexe Lage Österreich-Ungarns in der besetzten Westukraine, wo man die ukrainische Nationalbewegung zu fördern versuchte, um Russland zu schwächen, gleichzeitig aber von den Ukrainern in Galizien Loyalität einforderte. Eine ähnliche Strategie verfolgte das österreichisch-ungarische Besatzungsregime im Süden des Königreichs Polen, wo durch eine gezielte Förderung im Religions- und Kulturbereich die nationalen Bestrebungen der dortigen Polen kontrolliert werden sollten. Tamara Scheer sieht jedoch den Versuch, zu diesem Zweck vor allem den katholischen Glauben zu instrumentalisieren, als gescheitert an. Zu einem ähnlichen Befund gelangt Arkadiusz Stempin für die deutsche Politik im besetzten Königreich Polen, durch kulturpolitische Zugeständnisse die Mehrheit der Polen für sich zu gewinnen. Die erhoffte Annährung blieb aus, was auf die Unkenntnis über die Gegebenheiten des Landes sowie auf die kurzfristige, paternalistisch-überhebliche Denkweise der Besatzer zurückgeführt wird. Die nationalen Aspirationen der Polen wurden häufig unterschätzt und konnten im Laufe des Krieges auch durch pro-polnische Maßnahmen der Großmächte nicht mehr eingefangen werden, wie Jens Boysen am Beispiel der polnischen Zivilbevölkerung in den preußischen Ostprovinzen anschaulich darlegt.
Ergänzt wird der Sammelband durch spezifische, teils komparatistische Aspekte. Ljubov' Žvanko beschreibt die Versorgung der Flüchtlinge im Zarenreich und die allgemeine Überforderung der Behörden mit diesem Problem. Irina Čerkaz'janova schildert den Abbruch der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen 1914/15. Mit einem Aufsatz über das Misstrauen gegenüber den Deutschen in Kanada und in den USA während des Ersten Weltkriegs bietet Katja Wüstenbecker einen vergleichenden Blick auf den Umgang mit vermeintlichen sowie tatsächlich illoyal gewordenen Bürgern deutscher Herkunft in Nordamerika.
Insgesamt lassen die Beiträge zwei Dominanten erkennen. Primär konzentrieren sich die Autoren vornehmlich auf die Dichotomie zwischen den Trägern militärischer/staatlicher Gewalt und der betreffenden Bevölkerungsgruppe. Bei näherer Betrachtung handelte es sich jedoch oftmals um eine Trias zwischen den Militärbehörden, der Minderheit und der einheimischen Bevölkerungsmehrheit. So erfolgte zum Beispiel die Deportation und Enteignung von Deutschen und Juden aus den russisch beherrschten Teilen Polens meist unter Zustimmung und Wohlwollen einheimischer Polen, was von der russischen Generalität auch beabsichtigt war. Auf diese Weise versuchte die zarische Obrigkeit die pro-russischen Kräfte (Nationaldemokraten) in der polnischen Gesellschaft zu fördern und das versprochene, aber nicht erfolgte Entgegenkommen in der nationalen Frage zu kompensieren. Daneben fällt auf, dass den Beiträgen ausschließlich staatliches, hier vor allem militärisch-amtliches Schriftgut zugrunde liegt. Quellen anderer Provenienzen wurden kaum berücksichtigt. Wie erkenntnisreich Letztere gerade bei diesem Thema sein können, zeigt Frank Schuster an der jüdischen Bevölkerung Ostgaliziens. Mittels autobiografischer Aufzeichnungen lässt sich anschaulich ein zeitgenössisches Psychogramm mit seinen längerfristigen Folgen für die Betroffenen rekonstruieren und zugleich die Befindlichkeiten der jüdischen Bevölkerung unter den verschiedenen Besatzungsregimen vergleichen.
Der Ertrag dieses Bandes liegt vor allem in der breiten Erfassung kriegsbedingter Handlungsimperative gegenüber der Zivilbevölkerung, die sich zwischen Gewalt und Fürsorge bewegten und die Macht und Ohnmacht militärischen Handelns aufzeigen. Inwiefern dabei die Ohnmacht etwaige Gewalt hervorrief, bleibt weiteren Forschungen vorbehalten.
Severin Gawlitta