Olaf Wagener (Hg.): Aborte im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Bauforschung - Archäologie - Kulturgeschichte (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; Bd. 117), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014, 304 S., 205 Abb., ISBN 978-3-7319-0093-1, EUR 69,00
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Dieser aus einer Tagung hervorgegangene Sammelband widmet sich einem in der aktuellen Diskussion rege betrachteten Thema an der Grenze zwischen Geschichtswissenschaft, Kunstgeschichte und Archäologie. Das gestiegene Interesse an der Kulturgeschichte mit der vermehrten Frage etwa nach der Obszönität in der Vormoderne und medizinhistorische Überlegungen zur Entwicklung der Körperhygiene machen aus dem Abort ein ideales Thema für interdisziplinäre Studien. Dieses facettenreiche Feld erschließt der vorliegende Band mit seinen zahlreichen, oft konzisen Beiträgen durchaus.
Die damit angesprochenen, sehr unterschiedlichen Zugänge zum Thema sind dabei im Band unterschiedlich stark gewichtet. Der größte Teil der Beiträge beschäftigt sich mit der bauhistorischen Situation von Aborten, und hier gilt das besondere Augenmerk dem mittelalterlichen Burgenbau. Hierzu zählen mehrere grundsätzliche Aufsätze, so der einführende, bauhistorische Beitrag von G. Ulrich Großmann zur Entwicklung des Aborts, die Überlegungen von Dieter Barz zur Entwicklung von Abortanlagen in Wehrbauten des Hochmittelalters, die beiden Beiträge von Jan Kamphuis und Taco Hermans, die an niederländischen Beispielen die soziale Funktion der Aborte in der Architektur zeigen, und Olaf Wageners Reflexionen zur Zugänglichkeit der oft an Türmen angebrachten Aborte vom Burginneren und der Ableitung der Fäkalien am Außenbau der Burg, wobei durchaus nicht immer eine Ableitung vor die Burg erfolgte. Den baulichen Bedingungen auf Burgen sind sodann eine Reihe einzelner Bauuntersuchungen gewidmet, welche die Burg Montfort bei Bad Kreuznach (Stefan Köhl), Schloss Neuenburg bei Freyburg an der Unstrut (Reinhard Schmitt), die Falkenburg bei Detmold-Berlebeck im Teutoburger Wald (Johannes Müller-Kissing) und die Burg Reichenberg bei St. Goarshausen (Kurt Frein) in Bezug auf ihre Aborte genauer unter die Lupe nehmen. Andreas Priesters blickt zudem auf die räumliche Abhängigkeit von Aborten zu bestimmten Räumlichkeiten wie der Schlafkammer in thüringischen Schlossbauten der Renaissance.
Die Untersuchungen von Abortanlagen in Burgen werden erweitert durch archäologische Befunde aus mittelalterlichen Städten und Klöstern, namentlich für das Rheinland und Westfalen (Jens Friedhoff), Konstanz, Freiburg im Breisgau und Erfurt (Karin Sczech) und Lübeck (zur Bauweise der Latrinen Manfred Gläser, zu deren Inhalt als Quelle der Alltagsgeschichte Doris Mührenberg). Die Toilettensituation in Klöstern besprechen im Speziellen Ulrich Knapp und Alfons Zettler, der den St. Gallener Klosterplan in Bezug auf diese Frage genauer untersucht. Benjamin Laqua widmet sich der durchaus konfliktträchtigen Entsorgungsproblematik in spätmittelalterlichen Städten, ein Thema, dem Stephan Sander-Faes ein Fallbeispiel aus dem venezianischen Zadar zugesellt, wo 1564 die Franziskanerterziaren über eine neue Abwasserleitung mit ihren Nachbarn in Konflikt gerieten. Daniel Burger beleuchtet die auch als Pappenheimer bezeichneten Aborträumer in Nürnberg und verweist hier auch auf sehr graphische Quellen wie jenen Bericht vom Unglück bei der Anlage einer neuen Senkgrube beim Dominikanerkloster 1469, bei der mehrere Männer in den Fäkalien umkamen. Bernd Fuhrmann erweitert diesen Blick auf die Unratentsorgung auch für andere oberdeutsche Städte. Dass die Probleme der Entsorgung sich auch in der Neuzeit gerade in Bezug auf die Stadtgräben als naheliegendstem Ort der Beseitigung von Fäkalien ergaben, zeigt Benedikt Stadler für die Festungsgräben der Stadt Mannheim.
Der dem mittelalterlichen Umgang mit Fäkalien zugrundeliegenden antiken Situation nach archäologischem und schriftlichem Befund widmen sich Beatrix Petznek und Günther Stanzl in ihren beiden Beiträgen. Demgegenüber zeigen die beiden den Band abschließenden Aufsätze von Thomas Schuetz zur Beschreibung des christlichen Akkons bei Ibn Jubair und Kathrin Machinek über die Hygiene im muslimischen Festungsbau die kulturelle Differenz der mittelalterlichen lateinischen Christen zu ihren muslimischen Zeitgenossen auf; dabei zeigt sich, dass nicht moderne Hygienevorstellungen, sondern die Idee ritueller Reinheit hinter den aus heutiger Sicht fortschrittlicheren Bedingungen der Körperpflege stand. Demgegenüber deuten der Beitrag von Patrick Sturm zur Rolle der Fäkalien in der vormodernen Seuchentheorie und die Überlegungen von Alfred Stefan Weiß zu österreichischen Hospitälern und deren Toilettensituation auf die Veränderungen im europäischen Verständnis der Hygiene im Laufe der Frühen Neuzeit.
Der einführende Beitrag von Johannes Grabmayer bietet einen aufschlussreichen Überblick zu Darstellungen von Toiletten und Nachttöpfen im Bild, bleibt jedoch im Gesamtband der einzige Aufsatz, der explizit dieser Seite der Überlieferung gewidmet ist. Umfangreicher hingegen fällt ein Teil von Beiträgen aus, der die kulturhistorische Seite des Themas genauer beleuchtet. Der Tod auf dem Abort, den Julia Burkhardt und Manuel Kamenzin ausgehend von der 1484 erfolgten Ermordung des Ritters Erasmus Lueger auf Burg Lueg im heutigen Slowenien und Patricia Tesch-Mertens für das Frühmittelalter in der mittelalterlichen Historiographie verfolgen, hatte sein negatives Vorbild insbesondere im Bericht vom Tode des Häretikers Arius an diesem Ort stiller Verrichtung. Skatologische Figuren finden sich in vielen kirchlichen und städtischen Kontexten des Spätmittelalters, und Elizabeth den Hartog ergänzt den Band um entsprechende Beispiele aus den Niederlanden. Siegrid Schmidt schließlich verfolgt die sprachliche Verbindung zwischen dem Thron und dem sozial theoretisch, aber nicht zwingend praktisch nivellierenden Abortsitz.
Die umfangreichen Erkenntnisse der Beiträge dieses Sammelbandes ermöglichen einen guten Überblick zum Stand der aktuellen Forschung in Bezug auf die Aborte und die Latrinen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Sie erschließen somit ein interessantes Feld der Forschung, das sich sicherlich steigender Aufmerksamkeit durch die Fachwelt wird erfreuen können. Schade ist nur, dass die sehr unterschiedlichen Ansätze - oft beschreibende, archäologische und bauhistorische Studien hier, quellenkritisch-kulturhistorische, aber stark textbasierte Beiträge dort - nicht noch stärker in einen Dialog miteinander gebracht wurden. Das Feld ist gut bestellt und gedüngt, die Früchte mögen darauf gedeihen!
Romedio Schmitz-Esser