Tim Szatkowski / Daniela Taschler (Bearb.): Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1984. Band I: 1. Januar bis 30. Juni, Band II: 1. Juli bis 31. Dezember (= Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, 2 Bd., LXXXVI + 1751 S., ISBN 978-3-11-034542-1, EUR 139,95
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Seit dem Erscheinen des ersten Bandes im Jahr 1993 haben sich die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland den Ruf eines unverzichtbaren Hilfsmittels zur Erforschung der Bonner Außenpolitik nach 1949 erworben. Der besondere Wert des Quellenwerks liegt darin, dass es eine Fülle bisher unzugänglicher Dokumente mit einem akribischen Anmerkungsapparat versehen der geneigten Leserschaft vorlegt. Mit bewundernswerter Pünktlichkeit liegt nun nach dem Ablauf der 30-Jahres-Sperrfrist der Jahresband 1984 vor. Das aus zwei Teilen bestehende mächtige Werk umfasst 357, in chronologischer Folge abgedruckte Schriftstücke, die ganz überwiegend aus den Beständen des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts stammen. Akten anderer Ressorts wurden, abgesehen von spannenden Gesprächsprotokollen aus dem Bundeskanzleramt und dem Privatarchiv Helmut Kohls, nur zur Kommentierung herangezogen.
Der Doppelband entfaltet ein breites Panorama westdeutscher Außenpolitik von den Traditionsthemen der Sicherheits- und Europa- über die Afrika- zur Außenhandels- und Entwicklungspolitik bis hin zu neuen Themen wie der Weltraumpolitik, dem grenzüberschreitenden Umweltschutz oder dem Tiefseebergbau. Dass die Republik auch 35 Jahre nach ihrer Gründung noch immer die Hinterlassenschaften der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht ad acta legen konnte, belegen die Dokumente über eine Begnadigung des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß, die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag des D-Days oder die Vorbereitung des 40. Jahrestages des Kriegsendes.
Aus den drei für sie zentralen "'Kreisen' ihrer Politik" - der Atlantischen Allianz, der Europäischen Gemeinschaft und der Beziehungen zur Sowjetunion - "einen Regelkreis zu machen", so definierte Andreas Wirsching in seinem Standardwerk über die erste Hälfte der Ära Kohl das "oberste Ziel" der Bonner Außenpolitik. [1] Die Zustimmung des Deutschen Bundestages zum NATO-Doppelbeschluss und der Beginn der Stationierung von Pershing-II-Raketen hatten sie von diesem Ziel weit entfernt. Ihre Hoffnung, den brüchigen Faden der Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion fortspinnen zu können, sollte sich zunächst nicht erfüllen. Wenngleich Außenminister Genscher dem Kreml versicherte, dass die Bundesrepublik "nicht raketensüchtig" (641) sei, überzog Außenminister Gromyko Botschafter Kastl Anfang Juni mit Revanchismus- und Revisionismusvorwürfen.
Bonn Verhältnis zu Washington war demgegenüber dank des Festhaltens am NATO-Doppelbeschluss von wachsendem Vertrauen gekennzeichnet, ohne dass sich die Bundesregierung zu einer blindgläubigen Übernahme amerikanischer Vorgaben hätte hinreißen lassen. Der von Präsident Reagan angekündigten Strategic Defense Initiative (SDI) begegnete das Auswärtige Amt aus Sorge um "Rüstungswettlauf und Destabilisierung des strategischen Gleichgewichts" mit deutlichen Vorbehalten (12). Dass die Bundesregierung trotz des Beweises der Bündnistreue nicht vor Spannungen zu den USA gefeit war, belegt auch die "Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen in Europa". Angesichts des durch die Dislozierung der Mittelstreckenraketen verschärften Ost-West-Gegensatzes maß sie der Stockholmer KVAE besondere Bedeutung zu. Die deutsche Delegation spielte dem eigenen Urteil nach eine "konstruktive Rolle" und fungierte häufig als "'Motor' im westlichen Caucus" (1596).
Tiefe Einblicke bietet die Edition auch in die von der Forschung bereits intensiv beackerte Deutschlandpolitik der Regierung Kohl / Genscher. In einer Kombination aus normativem Anspruch und pragmatischer Zusammenarbeit arbeitete Kohl in Kontinuität zu seinem Vorgänger Helmut Schmidt auf Wandel durch Annäherung, nicht aber auf die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten hin. Die deutsche Nation "leide unter der Last der Teilung" (1257), betonte der Kanzler gegenüber dem Generalsekretär der chinesischen KP, Hu Yaobang. Die deutschen Kernfragen stünden aktuell nicht auf der Tagesordnung der Weltpolitik, versicherte er Anfang April gegenüber dem DDR-Staatsratsmitglied Günter Mittag, doch sollten beide deutschen Staaten "vernünftig miteinander" reden (501). Kohl erneuerte die von Schmidt ausgesprochene Einladung an den Staatsratsvorsitzenden Honecker und billigte einen milliardenschweren Kredit, über den wir allerdings nur in einer Fußnote informiert werden (938, Anm. 4). Honecker war keineswegs abgeneigt, die Reise zu wagen, und sah auch den Nutzen der deutsch-deutschen Zusammenarbeit für die Navigierung "zwischen Krieg und Frieden" (Kohl, 219). Seit dem Frühjahr stellte sich "eine deutliche Entspannung im zwischenmenschlichen Verkehr" und ein Abebben der Polemik von Seiten der SED ein, wie der Ständige Vertreter in Ost-Berlin, Staatssekretär Bräutigam, meldete (483).
Auf der internationalen Ebene lösten die deutsch-deutschen Kontakte hingegen erhebliche Unruhe aus. Frankreichs Außenminister Cheysson giftete gegenüber seinem spanischen Kollegen Morán gar von "Nationalneutralismus" (1056). Sein italienischer Kollege Andreotti sprach sich offen für den Fortbestand zweier deutscher Staaten aus. Gromyko beteuerte gegenüber US-Außenminister Shultz, die Sowjetunion werde einer Wiedervereinigung nicht zustimmen, und deshalb werde sie auch "nicht stattfinden" (1467). Wie zur Bestätigung ließ der Kreml den Honecker-Besuch im Herbst platzen und vereinbarte kurz darauf mit dem Weißen Haus die Wiederaufnahme des 1983 abgebrochenen sicherheitspolitischen Dialogs.
Nie ließ die Bundesregierung einen Zweifel darüber aufkommen, dass ihre Friedenspolitik nach Osten nur auf der Basis einer festen Verankerung im Westen stattfinden konnte. Doch die seit Jahren dümpelnden Verhandlungen über eine Europäische Union waren aufgrund ungeklärter Haushalts- und Kompetenzfragen sowie schwieriger Erweiterungsverhandlungen mit Spanien und Portugal "festgefahren" (43). Wenn die Beratungen der EG Anfang 1984 eine Wende zum Guten nahmen, hing dies nicht zuletzt mit der nun beginnenden "Politik des ausgeprägten Bilateralismus" zwischen Kohl und Frankreichs Staatspräsident Mitterrand zusammen. [2] Spannende Dokumente verdeutlichen den von beiden Regierungen gemeinsam beschrittenen Weg zum Gipfeltreffen in Fontainebleau, auf dem der Europäische Rat einen markanten Fortschritt erzielen sollte. Zu den wichtigsten 'Pflastersteinen' auf diesem Weg gehörten sowohl das gegenseitige Bekenntnis, "Eckstein einer politischen Konstruktion Europas" zu sein (169), der Wille zur Überwindung der bilateral herrschenden "wesentliche[n] Differenzen" (187), die Drohung der Bundesregierung, bei der Fortschreibung der politischen Einigung notfalls "allein mit den Franzosen" zu gehen (238), die Furcht der Partner vor einem "Zweier-Direktorium in Europa" (321) und die Bereitschaft Kohls, die EG-Reformen mit deutschen Milliardenbeträgen voranzubringen. Dank des engen, wenngleich nicht konfliktfreien Schulterschlusses zwischen Bonn und Paris erreichte der Rat Mitte 1984 ein Verhandlungsergebnis, mit dem die EG nach Einschätzung des Auswärtigen Amts "eine der schwersten Krisen seit ihrem Bestehen" überwand (861).
Dass der Weg zur Europäischen Union noch weit sein sollte, verdeutlichten die Beratungen der in Fontainebleau eingesetzten Kommission für die institutionelle Reform. Denn nicht alle Beteiligten waren bereit, "die Latte [so] hoch[zu]legen" wie das Auswärtige Amt (1005). Der Ende November nach "schwierigen Beratungen" vorgelegte Zwischenbericht spiegelte die Differenzen in der Gemeinschaft trefflich wieder. Die nach dem Jahreswechsel beginnende zweite Halbzeit müsse zeigen, ob das Potenzial "für neue politische Impulse zur Weiterentwicklung der Gemeinschaft erschöpft" sei, notierte der deutsche Verhandlungsführer Staatssekretär Ruhfus (1457).
Mit ihrem ausgeprägten Gespür für die Bedeutung der Geschichte im Leben ihrer Völker und um die Wirkungskraft symbolischer Gesten hatten Kohl und Mitterand derweil eine Gedenkfeier in Verdun zur Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vereinbart, auf der sie sich öffentlichkeitswirksam die Hand reichten. Wenngleich der Kanzler später behaupten sollte, er hätte das Treffen von sich aus "nicht angeregt", weil Verdun für Frankreich "nicht irgendein Ort" sei [3], belegen die Dokumente eindeutig, dass er nicht nur Mitterrand eine deutsch-französische Zeremonie auf einem "Soldatenfriedhof" empfohlen (710), sondern ihm auch den Vorschlag unterbreitet hatte, "zusammen nach Verdun" zu gehen (749). Keine Klärung bringen die Dokumente hingegen zu der Frage, von wem am 22. September die Geste der ausgestreckten Hand ausging und ob sie "spontan war oder abgesprochen" (1115, Anm. 6).
Auch nach diesem Zeichen der Versöhnung blieb das deutsch-französische Verhältnis nicht frei von Konflikten. Zu den heikelsten Themen gehörte die Sicherheitspolitik mit ihrer atomaren Komponente. Schon zu Beginn des Jahres hatte das Auswärtige Amt aus Sorge um die von SDI ausgehende Gefahr eines "amerikanischen Unilateralismus" die Parole ausgegeben, dass die europäische Säule der NATO gestärkt werden müsse (13). In den Fokus der Debatte geriet bald die Westeuropäische Union, die namentlich Frankreich aus ihrem Dornröschenschlaf aufwecken wollte. Bonn hatte an einer Reaktivierung der WEU zunächst nur bedingt Interesse, weil ihm seit der Gründung 1954 noch gewisse Waffenherstellungsbeschränkungen auferlegt waren. Aus Sicht des Bundesverteidigungsministeriums musste vor allem darauf geachtet werden, dass eine WEU-Belebung die NATO nicht schwäche und keine Konkurrenz zur Europäischen Politischen Zusammenarbeit entstehe. Das Auswärtige Amt verschloss nicht die Augen vor den Risiken, maß der Aktivierung der WEU aber auch Chancen bei wie den Abbau von Divergenzen in der NATO und den Aufbau einer sicherheitspolitischen Dimension des europäischen Einigungsprozesses.
Vom Standpunkt der Bundesregierung her betrachtet, musste der Fokus dieser Debatte allerdings nicht auf die WEU, sondern auf die EG mit ihrem "deutsch-französische[n] Kern" (5) gelegt werden, zum einen um das "Risiko" einer Vernachlässigung der europäischen Interessen durch die USA zu mindern (1199) und zum anderen um mehr Mitsprache beim Einsatz der französischen Nuklearstreitmacht Force de frappe zu gewinnen. Anfang Februar beteuerte Kohl gegenüber Mitterrand, er wolle "kein Zwei-Schlüssel-System", könne sich aber gut vorstellen, mit ihm "eine kluge Absprache" wie die mit den USA bestehende zu treffen (171). Mitte Mai bat General Altenburg in einer Sitzung des deutsch-französischen Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung um Unterrichtung über operative Einsatzmöglichkeiten der "Force d'action rapide". Dass Verteidigungsminister Wörner dann kurz darauf den Wunsch der Bundesregierung vorlegte, über den Einsatz der Pluton-Kurzstreckenrakete auf deutschem Boden informiert zu werden, fand Außenminister Cheysson völlig indiskutabel, weil Frankreich weder der Sowjetunion noch den USA "irgendeine Sicherheit" geben wolle (727). Ende Mai vereinbarten Mitterrand und Kohl eine militärische Zusammenarbeit unter Berücksichtigung der bestehenden rechtlichen und vertraglichen Gegebenheiten, wobei der Einsatz von Atomwaffen dem Präsidenten vorbehalten bleiben sollte.
Eine gewisse Kompensation für die Beschränkungen der Bundesrepublik auf dem Gebiet der Kernwaffen sah Mitterrand in der gemeinsamen Eroberung des Weltraums. Nachdem er Kohl gegenüber Ende Oktober in zwei leider nicht im Wortlaut dokumentierten Unterredungen die Zusammenarbeit in jenen Bereichen beschworen hatte, die der Bundesrepublik nicht versagt sei - Weltraum, Lasertechnik, Chemiewaffen -, rief der Kanzler dazu auf, "toutes les technologies" in das Programm einzubinden. [4] Dem Präsidenten schmeckte dieser Gedanke ganz und gar nicht, lenkte die Aufmerksamkeit des Kanzlers stattdessen auf sein Lieblingsprojekt: einen gemeinsamen militärischen Satelliten. Doch davon wollte Kohl nur bedingt etwas wissen, wohl auch, weil sich im Streit über die Finanzierung innerhalb des Bundeskabinetts eine "Pattsituation" ergeben hatte (1586). Immerhin verständigten sich beide Regierungen darauf, die Arbeitsgruppe militärische Zusammenarbeit "mit den Weiterungen eines möglichen [...] Einsatzes der schnellen Eingreiftruppe [...] auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland [zu] befassen" (1325f.).
Einen regelrechten Dauerstreit in der Bonn Koalition löste die Entwicklungspolitik in Bezug auf Südafrika und Namibia aus. Genährt wurde er vor allem vom Zwist zwischen dem FDP-geführten Auswärtigen Amt und dem CSU-geleiteten Entwicklungshilfeministerium über die Ausrichtung der Entwicklungspolitik zwischen Menschenrechtsprinzipien und Rohstoffinteressen. Gern hätte der Leser hier mehr über die Rolle des 'verhinderten Außenministers' Franz Josef Strauß erfahren, der aus geopolitischen, außenwirtschaftspolitischen und persönlichen Motiven danach strebte, die weltpolitische Ebene deutscher Außenpolitik neu zu bestellen. Doch dieses Manko schmälert die Bedeutung des Doppelbandes keineswegs. Der Rezensent gratuliert Tim Szatkowski und Daniela Taschler zu ihrer beeindruckenden Kärrnerarbeit und dem gesamten Team zum 25-jährigen Bestehen der Edition.
Anmerkungen:
[1] Andreas Wirsching: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982-1990, Stuttgart 2006, 513.
[2] Ulrich Lappenküper: Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1949-1990, München 2008, 109.
[3] Diskussionsbeitrag Kohls zur Konferenz "Die Ära Kohl im Gespräch", in: Historisch-Politische Mitteilung 10 (2003), 324.
[4] Zu den Unterredungen zwischen Kohl und Mitterrand vom 29. und 30.10.1984 vgl. Ulrich Lappenküper: Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München 2011, 210f.
Ulrich Lappenküper